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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 4.1910

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Heft II (Februar 1910)
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Kolb, Gustav: "Der schöne Strich": (für einfache Schulverhältnisse)
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https://doi.org/10.11588/diglit.34105#0033

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„Der schöne Strich“. (Für einfache Schulverhältnisse.)
Als man im Zeichenunterricht noch Vorlagen und stereometrische Körper
kopierte, stand der „schöne Strich“ im hohen Ansehen. War die Zeichnung im
Entwurf fertiggestellt, so wurde sie abradiert, der Bleistift fein gespitzt, und mit
möglichst glatten Strichen „ausgezogen“. „Der schöne glatte Strich, das ist die
Hauptsache im Zeichnen,“ sagte ein alter Kollege zu mir, als ich meinen Dienst
als Zeichenlehrer vor 12 Jahren antrat. In diesem Sinn wurde damals fast
überall, vor allem auch in den Seminarien unterrichtet; kein Wunder, dass die
meisten Lehrer, die heute an Volksschulen Zeichenunterricht erteilen, ganz und
gar im Banne des „schönen Striches“ liegen.
Auf der sogenannten Reformzeichenausstellung im Herbst 1905 verteidigte ein
Bezirksschulinspektor mir und andern Kollegen gegenüber den schönen Strich mit
der Begründung: „Die schöne Linie stand mit Recht in der Kunst immer hoch,
besonders in der Antike. Er war so verrannt in seine Anschauung, dass ihn nicht
einmal der Hinweis belehren konnte, dass er das Opfer einer Verwechslung ge-
worden sei; denn die schöne Linie der antiken Bildwerke bilde ja geradezu den
Inhalt dieser Kunst, während die von uns angefochtene schöne Linie der Zeich-
nung nur eine kalligraphische Angelegenheit sei.
Meine Beobachtung hat mich nun belehrt, dass besonders diejenigen Lehrer,
die nach dem alten Sinne gute Zeichner waren, der Gefahr ausgesetzt sind, von
dem schönen Strich nicht loszukommen, während andere, die nicht so handge-
schickt aber trotzdem gute Beobachter sind, in unserem Sinn bessere Zeichner
und vornehmlich auch bessere Zeichenlehrer sein können.
Warum nun aber der Kampf gegen den „schönen Strich?“ Weil er leblos,
schematisch charakterlos, schwächlich und also seinem innersten Wesen nach un-
natürlich und unkünstlerisch ist. Wie so das? Auffassung und Technik jeglicher
Art von Zeichnung müssen im engsten inneren Zusammenhang stehen und der
Umriss einer Naturzeichnung muss aus der Naturform heraus „empfunden“ sein.
Beispiele: Wenn ich einen Zweig mit Weidenkätzchen zeichne, so muss schon in
der Linie ausgedrückt sein, dass der Stengel hart und holzig, die Blüten dagegen
weich sind. Wenn ich ein menschliches Brohl zeichne, so muss der Umriss bei
den knochigen Teilen ganz anders als bei den knorpeligen oder gar fettfleischigen
Teilen gezeichnet werden und diejenigen Linien, die im Licht spielen, werden
ganz anders dargestellt als solche, die fest und bestimmt gegen das Licht stehen.
Derjenige Zeichner nun, der die Form empfindet, der wird unbewusst und
unwillkürlich den richtigen Ausdruck dafür finden, während der andere, der die
Absicht verfolgt, „flott“ zu zeichnen, auf Abwege kommt. Seine Zeichnung wird
vielleicht den oberflächlichen Betrachter bestechen, aber sie wird einer tieferen
Beurteilung nicht standhalten. Ein solcher Zeichner verfällt mit der Zeit in
Manierismus, seine Arbeiten werden öde und leer und charakterlos. Der berühmte
belgische Bildhauer Meunier kam einmal von einer Ausstellung von Faris zurück.
Er klagte einem Freund gegenüber, dass er nichts Würdiges gesehen habe. „Nur
eine zitternde Linie war da, die hat die Kunst gerettet.“ Jeder von uns weiss,
was er damit sagen wollte: Unter den vielen Werken, die nur Routine und blen-
dende Technik zeigten, fand er eine bescheidene Zeichnung, die vielleicht tech-
nisch ungewandt, aber warm empfunden war.
Das alles gilt nun auch für unsern Zeichenunterricht. Die Technik an sich
sei uns nichts, die Auffassung aber alles. Der schöne glatte Strich muss darum
verschwinden und das früher beliebte „Ausziehen“ der Zeichnung darf nicht mehr,
wenigstens nicht mehr in dieser Weise geübt werden. Wenn wir eine Arbeit
nachziehen lassen, so hat dies nur den Zweck, dass der Schüler seine ganze Kraft
nochmals zusammennimmt und auf Grund eines erneuten Studiums des Naturvor-
bildes eine noch bessere Wiedergabe desselben anstrebt. Ein gedankenloses, nur
auf den schönen Strich gerichtetes Ausziehen, bei dem der Schüler das Vorbild
häufig überhaupt nicht mehr ansieht, darf es aber nicht mehr geben.
 
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