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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 4.1910

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Heft IX (September 1910)
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Bender, E.: Genie oder Fleiss
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https://doi.org/10.11588/diglit.34105#0131

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Heft IX

IV. Jahrgang

September 1910

Schriftleiter: Gustav Kolb, Oberreallehrer in Göppingen.
Inhalt:
Genie oder Fleiss. — Von unseren Grundsätzen. — Ueber die Pflege des Heimatlichen im länd-
lichen und städtischen Bauwesen. — Warum finden wir die alten Bauernmöbel schön? — Aus-
schnitte sehen. — Steine bemalen. — Besprechungen.

Genie oder Fleiss.
E. Bender.
Der alte Menzel nahm kein Blatt vor den Mund, er sagte seine Meinung und
unterschied nicht, wer vor ihm stand. Einst äusserte sich ihm gegenüber ein
junges Herrchen sehr anerkennend über sein grosses Talent und fügte hinzu, ihm
persönlich fehle jede Veranlagung zum Zeichnen. Menzel erwiderte: „Sagen Sie
doch lieber, es fehlt mir die Kraft zu intensiver, ausdauernder Beobachtung, die
Fähigkeit zu konzentriertem Anschauen, und vor allem habe ich meine Energie
nicht hinreichend geschult.“ Ein anderes Mal lehnte er ein Kompliment über sein
„grosses Genie“ schroff ab: „Ach was Genie! — es gibt bloss Fleiss.“
Und nun bitte ich, die in Figur 1 — 7 wiedergegebenen Ausschneidearbeiten
eines 13jährigen Mädchens der höheren Mädchenschule Karlsruhe näher zu be-
trachten.
Fig. 1. Brüderlein lernt laufen. Welch feine Beobachtung von Haltung
und Bewegung! Wie gut ist mit der einfachen Umrisszeichnung der zärtlich sorg-
same Gesichtsausdruck der älteren Schwester gelungen.
Fig. 2. Es gibt was zu sehen. Eine feine psychologische Studie.
Fig. 3. Selber essen macht fett. Ein Kabinettstückchen der Ausschneide-
kunst. Man beobachte die Entrüstung des näheren Jungen, wie er die Fäuste
ballt und wie er trotz bitterer Erfahrung immer noch hofft. Auch der zweite
Junge, der sich schon zum Fortgehen angeschickt hatte, dreht sich nochmals um.
Die Wendung ist geschickt veranschaulicht durch verschiedene Stellung der Füsse.
Fig. 4. Brüderlein darf spazieren fahren. Hier offenbart sich ein
feines Verständnis für Empfindungen der Kinderseele. Wie stolz und feurig ist
das Pferdchen, wie gut beobachtet die Empfindungen des Kleinen in der Kutsche.
Eine köstliche Kinderstudie stellt auch Fig. 5 dar, „Das kleine Mütterchen“.
Fig. 6. „So langsam wie die Schnecke, so schnell wie der Wind.“
Mit dieser Unterschrift zeigt das Mädchen an, dass die Darstellung beider Gang-
arten beabsichtigt war. Tatsächlich ist der Moment des Uebergangs vom lang-
samen zum schnellen Tempo trefflich gelungen.
Fig. 7. Kleinkinderschule, zeigt vor allem in der Wiedergabe der Kinder-
schwester, des ersten und letzten Kindes Proben von einer ganz ungewöhnlich hoch
entwickelten Beobachtungsgabe.
Alle diese Arbeiten sind ohne Vorzeichnung direkt mit der Schere in wenigen
Minuten ausgeschnitten. Es offenbart sich in ihnen nicht nur eine für dieses jugend-
liche Alter staunenswerte Beherrschung der menschlichen Figur; hier spricht ein
Meister zu uns. Und welche Zaubersaiten berührt die jugendliche Meisterin: Die
längst entschwundene Kinderzeit mit ihrem seligen Glücke wird vor unsern Augen
wieder lebendig. Die Bildchen sind Kabinettstücke in der Schilderung des Lebens
und Empfindens unserer Kleinen. Dass der kindliche Geist so glücklich getroffen
ist, darf uns nicht wundern, denn die Schöpferin dieser köstlichen Darstellungen
ist ja noch ein Kind. Aber welche Meisterschaft liegt in diesen Kinderhänden
auch in rein technischer Hinsicht. So fein die Sachen alle ausgeführt sind, klein-
lich sind sie nicht. Was sind das für kühne grosszügige Schnitte z. B. in Fig. 1
bei der grösseren Schwester , in Fig. 3 und in Fig. 4. Je eingehender man die
Bilder betrachtet, desto grösser wird das Rätsel: Solche Meisterschaft bei einem
13jährigen Mädchen!
Wie stellen wir uns nun zu den Worten Menzels: „Ach was Genie! — es
gibt bloss Fleiss.“ Mir haben Hunderte von diesen Ausschneidearbeiten vorgelegen,
auch solche aus früheren Jahren, und es wurde mir gesagt, dass das, was ich ge-
 
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