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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.3633#0005
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MITTEILUNGEN

DER

GESELLSCHAFT FÜR VERVIELFÄLTIGENDE KUNST.
BEILAGE DER „GRAPHISCHEN KÜNSTE".

1922.

WIEN.

Nr. 1.

Studien und Forschungen.

Ein unbeschriebener Einblattdruck und das Thema der »Ährenmadonna«.

»Hypothesen sind Wiegenlieder, womit der Lehrer seine Schüler einlullt; der denkende,
treue Beobachter lernt immer mehr seine Beschränkung kennen, er sieht, je weiter sich das
Wissen ausbreitet, desto mehr Probleme kommen zum Vorschein.«

Goethe, Sprüche in Prosa.

In den Werdezeiten einer Kunstübung offenbart jedes ihrer Erzeugnisse so viel vom innersten Wesen der
neu geschaffenen Gattung, daß eine möglichst lückenlose Zusammenstellung derart bedeutsamer Denkmäler zu den
wichtigsten Aufgaben der kunstgeschichtlichen Quellenkunde gehört. Die um die Entwicklungsgeschichte der verviel-
fältigenden Künste bemühte Forschung, die sich seit jeher der umfassendsten Katalogarbeiten rühmen darf, ist auf dem
bestenv Wege, diese ideale Forderung für einige ihrer wichtigsten Sondergebiete in die Tat umzusetzen. Während das
Lebenswerk eines Lehrs den nordischen Kupferstich des XV. Jahrhunderts bereits weit darüber hinaus einer abschlie-
ßenden Behandlung entgegenführt, mußte in dem erheblich ausgedehnteren Bereich des frühen Formschnittes schon die
Herbeischaffung des Materials von vornherein die Kraft eines einzelnen übersteigen. Immerhin haben auch hier die
systematischen Veröffentlichungen der in graphischen Sammlungen und in Bibliotheken anzutreffenden Bestände, die im
Anschluß an Schreibers grundlegendes »Manuel« eingesetzt haben, wenigstens das nächstliegende Ziel in Sehweite
gerückt. In dem immer regeren Interesse, das sich neuerdings gerade diesen ehrwürdigen Frühwerken der »gedruckten»
Kunst zuwendet, tritt eine der mannigfaltigen Wechselbeziehungen zwischen kunstwissenschaftlicher Forschung und
lebendiger Kunstentwicklung zutage, die sich in der Regel für beide Teile gleich fruchtbar erweist. Wenn die moderne
Ausdruckskunst im »primitiven« Formschnitt die urtümlichen Stilforderungen dieses Kunstzweiges in ungetrübter Reinheit
verwirklicht findet, erwächst jener um so gebieterischer die Pflicht, jedes neu auftauchende Blatt — selbst jenseits seines
künstlerischen Ranges — auf den artgeschichtlichen Quellen wert hin zu untersuchen und demgemäß zu entscheiden, inwie-
weit seine individuellen Eigenschaften zur Stilcharakteristik der Gesamtheit herangezogen werden können. Zudem ruht
die Entstehung und Verbreitung des Bilddruckes von Anfang an auf so breiter Grundlage, daß die verwickelte Proble-
matik seiner »ersten Ursachen« und deren gegenseitige Durchdringung noch eingehender Klärung bedarf. Daher wird
eine solche Untersuchung stets auch die äußeren und inneren Voraussetzungen der Formschneidekunst gebührend zu
berücksichtigen haben, wie diese — nach ihrer Bedeutung als stilbildende Faktoren bisher nur allzu selten vollauf
gewertet — in der jeweiligen Erscheinungsform der zugehörigen Denkmäler zusammenwirken; unter ihnen bezeichnen
etwa der Bestimmungs- und Gebrauchszweck, das technische Verfahren, der Werkstattbetrieb, die Herausbildung,
Wandlung und Wanderung ikonographischer Typen und das Verhältnis zu anderen Kunstzweigen ebenso viele Aus-
gangspunkte der in (fiesem Sinne methodisch zu vertiefenden Erkenntnis. Lauter allgemeine Fragen, die ihrerseits
wiederum so untrennbar mit der künstlerischen Würdigung und stilkritischen Einordnung des Einzelblattes verknüpft
sind, daß schon die Notwendigkeit ihrer Beantwortung dessen tunlichst allseitige Betrachtung erheischt. Hiemit mögen
sich zugleich die folgenden Erörterungen um ihrer Langwierigkeit willen rechtfertigen; gelten sie doch einem bisher
völlig unbekannten Inkunabel-Formschnitt, der das handwerkliche Mittelmaß bei weitem überragt und überdies nach
mancher angedeuteten Richtung bemerkenswerte Aufschlüsse bietet. Für Anlage und Umfang dieser Arbeit ist freilich
noch ein besonderer Umstand entscheidend geworden: Da es sich in ihrem Verlaufe zur eigenen Verwunderung des Ver-
fassers herausstellte, daß der Vorwurf des Blattes trotz neuerer Monographien im Grunde unerforscht geblieben sei, hielt

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