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Hausmann, Raoul; Große Berliner Kunstausstellung <1921, Berlin>
Führer durch die Abteilung der Novembergruppe: Kunstausstellung Berlin 1921 — Berlin: Otto Elsner, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.47093#0012
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zu lassen. Anders steht es um die Versuche, in der Art
alter oder primitiver Völker oder der Kinder Kunst zu
machen. Der primitive Mensch oder das Kind machen sich
auf ihre Art, vollkommen intuitiv und voll magischer
Spannungen und Beziehungen, ein Bild ihrer Welt, ihres
optischen Bewußtseins, sie setzten ihre Kräfte für die durch
die Erscheinungswelt zu ihnen sprechenden Weltkräfte, sie
geben ihr Gleichnis. Das Wesen der Kunst besteht im An-
schauen, in der Gewalt und Verantwortung des An-
schauens; wer also wie ein Primitiver oder wie ein Kind
darstellt, ist sich der Verantwortlichkeit seiner Entwick-
lungs- und Bewußtseinsstufe gegenüber nicht bewußt oder
er betrügt, Im besten Falle kommen bei dieser Formen-
übernahme ästhetische Spielereien zustande — und gerade
die Schöpfung des Primitiven oder des Kindes lebt jenseits
der Aesthetik. Es ist Unfug, wenn Kunstgelehrte be-
haupten, „Picasso habe die Negerplastik entdeckt und
daraus den Kubismus geschaffen“ — solcherart entstanden^
Werke (auch in Deutschland haben sich viele Künstler zu
Beutezügen in das Museum für Völkerkunde begeben, um
einen voreiligen „Stil" zu finden) können nur als sinnlose
Spielerei betrachtet werden. Es gehört Mut dazu, eine
Welt anzuschauen, eine Weltanschauung optisch zu ge-
stalten, es gehört der Mut dazu, in einer unbekannten
Sprache zu sprechen — aber diese geistige (und leibliche)
Umgestaltung und Neugeburt muß in unserer Zeit vollzogen
werden. Deshalb ist auch das Gerede vom Ende der Kunst
ganz unfruchtbar und unwesentlich, denn der neue Mensch,
der heraufkommt, bedarf einer neuen, von keiner Ver-
gangenheit beschmutzten Sprache — und, getrieben von
der Erkenntnis, daß uns völlige Einsicht in die Kräfte des
Universums versagt bleibt, soweit auch die Wissenschaft
oder die Technik vorstoßen werden und müssen, weil sie

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