Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege; Bayerische Akademie der Schönen Künste [Mitarb.]; Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege [Mitarb.]
Bauen in München, 1890-1950: eine Vortragsreihe in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste — Arbeitshefte des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege, Band 7: München: Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, 1980

DOI Kapitel:
Kurrent, Friedrich: München - Wien: Ein Vergleich
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.63236#0102
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Friedrich Kurrent

München—Wien: Ein Vergleich
Vorbemerkung:
Der Vortrag vom 9. März 1978 stützte sich auf Diapositiv-
Doppelprojektion mit 200 Bildbeispielen und frei gespro-
chenen Erklärungen. Vorliegender Text ist lediglich die Zu-
sammenfassung der einzelnen Zeitabschnitte. Eine Aus-
wahl von Abbildungen (linke Spalte München, rechte Spalte
Wien) soll in reduzierter Form die Gegenüberstellung an-
schaulich machen.
Mark Twain gibt uns in seiner „Reise um die Welt”, die er im
Jahre 1900 beschreibt, ein Bild über die Lebensweise der
Bewohner der beiden Nachbarländer Bayern und Öster-
reich:
„Vor Jahren verlebte ich einige Wochen in dem bayerischen
Bade Tölz. Die Gegend ist katholisch, und nicht einmal in
Benares ist die Bevölkerung so durch und durch religiös
und so eifrig in ihrer Frömmigkeit. Das erkennt man auf den
ersten Blick. An anderen Orten in Bayern sah ich, wie Wei-
ber schwere, mit Bierfässern beladene Karren zogen.
In Österreich fand ich oft eine Frau neben einer Kuh an den
Pflug gespannt, den ein Mann führte. Ich sah ein altes ge-
bücktes Weib, zusammen mit einem Hunde angeschirrt, ei-
nen beladenen Schlitten über gepflasterte und ungepfla-
sterte Straßen ziehen, während der Fuhrmann, ein kräftiger
Mensch von kaum dreißig Jahren, nebenher ging und seine
Pfeife rauchte.”
Aber München ist nicht Bad Tölz und die beschriebene Ge-
gend in Österreich ist sichtlich eines jener Alpenländer, de-
ren Hauptstadt Wien sich erst in letzter Zeit mehr und mehr
zu dem entwickelt, was es ist: zur Hauptstadt der Alpenre-
publik Österreich.
München, als Hauptstadt Bayerns und Wien als Hauptstadt
des 56-Millionenreiches und Vielvölkerstaates der kaiser-
lich-königlichen Doppelmonarchie, sind um 1900 Kraftfel-
der geistiger und künstlerischer Auseinandersetzung und
im baulich-architektonischen Bereich Stätten umfangrei-
chen Wirkens von großer Unterschiedlichkeit.
Es ist jedoch nötig, den darzustellenden Zeitraum, begin-
nend mit dem Jahre 1890 und endend mit der Mitte unseres
Jahrhunderts, vor dem Hintergrund der gewaltigen bauli-
chen und städtebaulichen Veränderungen beider Städte zu
sehen: der Stadterweiterung Münchens durch die großzügi-
gen Königsstraßen, die Ludwigs- und die Maximilianstraße,
und der Stadterweiterung Wiens durch Zusammenschluß
der Vorstädte mit der Inneren Stadt und der Auflassung der
Umwallung und der Fortifikationen als Voraussetzung für
den Bau der Ringstraße.
Kaiser Franz Joseph hatte den bayerischen König Maximi-
lian II, jenen höchst architekturinteressierten Regentenkol-
legen, als Berater für das Bauvorhaben der Wiener Ring-
straße eingeladen.
Als Friedrich von Thiersch in München und Otto Wagner in
Wien zum Bauen kamen, mußten sie den Eindruck haben,
die Klenze, Gärtner und Bürcklein — die Hansen, Schmidt,
Ferstl, Siccardsburg und Van der Nüll hätten ihnen schon
alles „weggebaut”.

Dennoch gelang es ihnen und manchen Nachfolgern den
für beide Städte spezifischen genius loci einzuhalten und
zu vermehren.
Was ist das Spezifische der beiden Städte?
Was der Unterschied?
Ist es jener wie zwischen Bier und Wein?
Zwischen Isar und Donau?
Zwischen König und Kaiser?
Spezifische Unterschiede im Baulich-Räumlich-Architek-
tonischen kann intuitiv auch jeder Laie feststellen, bis in
die kleinsten Kleinigkeiten; etwa die Steinstufen in Wiener
Stiegenhäusern und die Holzstufen der Münchner Treppen-
häuser; die höheren Baublöcke der Wiener Häuserzeilen im
Vergleich zu den niedrigeren in München; das verschiedene
Verhältnis von Breite zu Höhe der Straßenräume beider
Städte, das ein verschiedenes räumliches Erleben vermit-
telt.
Daß dies alles aus Bauordnungen, Staffelbauweisen, Bau-
klassen resultiert, ist für den Fachmann interessant.
Das eintönige Grau der Wiener Gründerzeitviertel und das
Farbige der Münchner Häuser fällt sicher dem Laien und
dem Fachmann auf (obwohl es, so möchte man in Klammer
hinzufügen, in letzter Zeit etwas zu bunt wird.)
München ist gsund und Wien ist dekadent, so lautet ein be-
kanntes Vorurteil. Wäre dem so, müßte sich dies auch in
der Architektur ausdrücken.
Anhand einer Parallelität soll im Folgenden versucht wer-
den, die Architekturentwicklung der beiden Städte Mün-
chen und Wien über einen Zeitraum von 60 Jahren, von
1890—1950, einschließlich aller Einbrüche beziehungswei-
se Unterbrechungen als Kontinuität darzustellen.
Meine Annahme besteht darin, daß sich die Eigenheiten der
einen jeweils vor dem Hintergrund der anderen Stadt schär-
fer profilieren, gleichsam wechselweise spiegeln.
Die Abfolge soll anhand bleibender und zeitgebundener Ge-
danken, Ideen, Konzepte, Ereignisse und Figuren, vor allem
aber anhand der für die Profilierung wichtigen Bauten erfol-
gen.
Lassen wir die Geschichte sprechen.
Rekapitulieren wir kurz die Zeitspanne von der Jahrhundert-
wende bis 1918, so läßt sich in beiden Städten München
und Wien die anfängliche euphorische Aufbruchstimmung
konstatieren, die das kulturelle, künstlerische Leben aus-
zeichnete, das aber mit dem Herannahen des 1. Weltkrie-
ges zusehends verblaßt.
„Wir führen, wir gehen siegreich voran, wir haben die Hege-
monie, bei uns sind die richtigen Leute und die richtige
Kunst”, rief Otto Wagner um die Jahrhundertwende aus.
Als Vertreter einer „freien Renaissance” wurde er 1895 als
Nachfolger Hasenauers an die Wiener Akademie berufen,
nachdem er unzählige Bauten, auch Spekulationsbauten,
historistisch hinter sich gebracht hatte — und niemand
konnte ahnen, daß er innerlich mit der tradierten Welt des
Historismus, mit der ganzen guten alten Architektur gebro-
chen hatte. Ab nun trat dies deutlich zutage, ab nun nannte
er seine Architektur „Nutz-Stil” und stellte in seiner eben-

100
 
Annotationen