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Klein, Dieter; Dülfer, Martin; Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege; Dülfer, Martin [Ill.]
Martin Dülfer: Wegbereiter der deutschen Jugendstilarchitektur — Arbeitshefte des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege, Band 8: München: Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, 1981

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https://doi.org/10.11588/diglit.63235#0035
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kannten die belgischen Architekten die Bedeutung der Ma-
schine für das Bauschaffen449): nicht von ungefähr bevor-
zugten sie sichtbare Eisenkonstruktionen an ihren Fassa-
den.
Gründungsbau des westeuropäischen Art Nouveau war
Hortas Haus Tassel (1892/93) in Brüssel; um 1895/96 setzte
schlagartig der oben genannte „Linienkult“ ein, der bald
von den Franzosen übernommen wurde und sich schwer-
punktmäßig besonders in Paris (wichtigste Vertreter:
Hector Guimard und Xavier Schoelkopf) und in Nancy
(Eugene Vallin) ausbreitete.
Zu ähnlichen Ergebnissen wie Horta kam nur wenig später
auch van de Velde450): für die deutsche Jugendstilbe-
wegung sollte sein Werk von besonders großer Bedeutung
werden. Nachdem er an einigen Ausstellungen teilge-
nommen hatte, sorgte der einflußreiche Kunstmäzen Graf
Kessler aus Weimar für Aufträge nach Deutschland.451)
Van de Velde verstand sich als Verfechter sozialer Anliegen;
die unterprivilegierten Schichten der Gesellschaft wollte er
mit „Schönheit und einem neuen Lebensgefühl“ beschen-
ken, der Arbeiterklasse „höhere Kultur“ vermitteln, ähnlich
wie sein Vorbild Morris.452)
Trotzdem arbeitete letztlich auch er fast ausschließlich für
Hochfinanz und Fürsten, ohne jemals der Arbeiterschaft
wirklich näher zu kommen.453)
Unter der Führung von Hendrik Petrus Berlage schlug die
niederländische Architektur der Jahrhundertwende eine
völlig eigenständige Richtung ein, die der später aufkom-
menden „Neuen Sachlichkeit“ näher verwandt ist als dem
Jugendstil. Auf „Linienkunst“ wie in Belgien war weit-
gehend verzichtet, es dominierte die gerade Linie. Einzelne
dekorative Effekte ergaben sich durch das Backsteinmate-
rial, so beispielsweise durch vorkragende, nur aus Ziegeln
gefügte Simse und Konsolen, ornamentartig vorstehende
Einzelsteine und ähnliches.454)
Wenn Dülfer in einem Interview ausdrücklich auf nieder-
ländische Vorbilder hinwies, bezog er sich vermutlich auf
Berlages Börse, wo viele der in Vergessenheit geratenen
Backstein-Dekorationstechniken erstmals wiederverwen-
det wurden; sie traten später in abgewandelter Form an den
Dresdner Hochschulbauten auf (Abb. 34).455)
Antonio Gaudi
In keiner der bisher genannten Stilrichtungen läßt sich das
Werk des Katalanen Antonio Gaudi einordnen: „Im wesent-
lichen war er noch der mittelalterliche Handwerker, der die
Ausführung dessen am Bauplatz überwachte, was er vorher
auf dem Papier skizziert hatte“.456) Er griff auf keinerlei Vor-
bilder zurück; ähnlich wie Mackmurdos Zeichnungen und
Sullivans Dekor nahmen ab 1883 seine pflanzenhaft-organi-
schen Gebilde den Jugendstil vorweg.457)
Eine wohl zufällige, entfernte Ähnlichkeit mit Gaudis Form-
empfinden läßt sich im deutschsprachigen Raum nur bei
Dülfers Häusern feststellen: die bizarren Fassaden derzeit
um 1900/1906 zeigen Umrisse, die hier ansonsten von
keinem Architekten „gewagt“ worden sind.
Ein wesentlicher Unterschied vor allem trennt die architek-
tonischen Auffassungen: Gaudis Bauten sind Grenzfälle
zwischen Architektur und Plastik458), während Dülfers
Wohnhäuser relativ flächig bleiben, vorkragende Bauteile
auf die konventionelle Grundform von Erker und Balkon be-

schränken und in ihrer Art am ehesten mit Buchschmuck
vergleichbar sind.459)
Jugendstil-Anfänge in Deutschland
Obwohl der neue Stil in Brüssel bereits um 1892 in voller
Reife aufgetreten war, nahm die Architektur des deutsch-
sprachigen Raumes die neuen Formen erst fünf Jahre
später auf, kurz nachdem die Kunstgewerbler Obrist und
Eckmann diese Art von Dekor propagiert hatten.460) Der
Name „Jugendstil“ geht auf Georg Hirths seit 1896 in
München erscheinende Zeitschrift „Jugend“ zurück.
Die Zeitschriften jener Epoche waren von einer nicht hoch
genug einzuschätzenden Bedeutung für die Entwicklung
der „neuen“ Kunst in Europa; unmittelbares Vorbild für die
meisten deutschen Kunstzeitschriften der Jahrhundert-
wende war zweifelsohne das 1893 in London gegründete
„Studio“. Nach seinem Muster war die seit 1897 in Darm-
stadt herausgegebene „Deutsche Kunst und Dekoration“
gestaltet, der wenig später in München die ebenbürtige
„Dekorative Kunst” folgte; beide hatten in Frankreich ent-
sprechende Schwesterzeitschriften, „Art et Decoration“
und „L’Art decoratif“.
Von stilbildendem Einfluß waren auch die eher literarisch
orientierten deutschen Zeitschriften „Pan“ und Simplizis-
simus“ (1895 bzw. 1896 begründet), in Österreich vor al-
lem „Ver sacrum“. Die seit 1890 erscheindende „Innen-
Dekoration“ blieb bis etwa 1895 dem Historismus ver-
bunden, um dann ebenfalls die Jugendstilformen zu propa-
gieren.461)
Nach deutschen Vorbildern entstand 1898 in Wien die Zeit-
schrift „Kunst und Kunsthandwerk“462), nicht zu verwech-
seln mit „Kunst und Handwerk“, deren Herausgeber der
Bayerische Kunstgewerbeverein war.
Zunächst beschränkte man sich auf eine Erneuerung der
Ornamentik, die meist noch in althergebrachter Art verwen-
det wurde: „Die Fabriken stanzen heute genauso diese
Jugendstilornamente wie sie früher Rokoko-Ornamente
stanzten.“463) Das bezog sich gleichermaßen auf Möbel-
gestaltung464) wie Architektur; moderne Stuckteile wurden
ohne weitere Überlegungen an konventionellen Fassaden-
schemata montiert, Phantasie-Kapitelle als „Anzeichen in-
dividueller Auffassung und... als erfrischende Abweichun-
gen von der gedankenlosen Nachahmung der klassischen
Muster“ gewertet.465)
All das brachte den Jugendstil als „atektonisches Kunst-
handwerk“ in Verruf: „Nicht in Äußerlichkeiten kann das
Neue bestehen... Die Architektur hat ihre Wesenheit im In-
halt zu suchen.. ,“466)
Die Auffassungen von „Architektur“ gingen mit denen des
Späthistorismus noch weitgehend konform, von sinnvoller
„Sachlichkeit“ war kaum die Rede. Teilweise zu Recht
sagte man dem Jugendstil nach, er sei „von einem Ge-
schlecht erfunden, das noch in der Gesinnung des Parvenü-
tums steckte...“467)
Mit der bewußt-selbständigen Verwendung der Form war
allmählich der Zweck eines Baues in neuartiger Weise zur
Erscheinung gebracht worden: „Nicht mehr durch das Or-
nament, nicht mehr durch Embleme“. Es wurden nicht
mehr „Krautköpfe als Kapitale und Rüben als Zahnschnitte,
... Marktweiber als Karyatiden“ verwendet.468)

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