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Assmann, Jan
Die Gott-Mythologien der Josephsromane — Düsseldorf, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.37076#0010
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Thomas Mann ebenso wie bei Sigmund Freud und James Frazer,
ebenso wie bei Stravinskys T<? (1915), der ein
heidnisches Menschenopfer-Ritual aus der russischen Frühzeit
auf die Bühne bringt, oder bei Picassos Demoisehes d'Avignon
(1907), die anstelle des Gesichts afrikanische Masken tragen. Die
Wiederentdeckung der archaischen Erbschaft der Seele — wie
Freud das nennt — ist sowohl in der Wissenschaft wie in der Kunst
ein avantgardistisches Projekt.
Thomas Mann nun beschreibt das archaische Selbst- und Welt-
verhältnis als ein »Leben im Mythos«7 Die Figuren der Josephs-
romane leben im Mythos, weil sie mehr (Jaakob, Eliezer) oder
weniger (Joseph) unbewusst in den Spuren vorgeprägter Geschich-
ten wandeln, in den Urformen und Urnormen des Lebens, die in
ihnen »Fleisch werden«. Zahllose Leser der Bibel, der XII. Sure
des Korans, der persischen und jüdischen Josepherzählungen, der
unabsehbaren Fülle christlicher Nachgestaltungen des Josefstoffs
sind dann ihrerseits in Josefs Spuren gewandelt, darunter (wor-
auf Freud TM aufmerksam machte^) Napoleon. Thomas Manns
Joseph, der seinen Mythos bewusster als andere lebt, bedenkt auch
dies: Er weih nicht nur zum Beispiel, dass seine Tränen - bei einer
bestimmten Gelegenheit — die Tränen Gilgameschs sind7 sondern
bei anderer Gelegenheit auch, dass er »in einer Geschichte« istd

5 Vgl. hierzu meinen Aufsatz »Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phä-
nomenologie der kulturellen Erinnerung«, in: Thomas Mann Jahrbuch Bd. 6
(Hg. E. Heftrich und H. Wysling), 1993 [1994], S. 133-158.
6 Brief an TM vom 29. November 1936 (Sigmund Freud: Briefe 1873-1939.
Ausgewählt und eingeleitet von Ernst L. Freud. Frankfurt I960, S. 424-427.
^ Joseph IV, Erstes Hauptstück, »Joseph kannte seine Tränen«. Darin heiBt es:
»Er kannte seine Tränen. Gilgamesch hatte sie geweint, als er Jschtars Verlan-
gen verschmäht und sie ihm Weinen bereiten hatte.«
s Das ist eines der Argumente, die Joseph aufführt, um Mut-em-enet von
ihrem Wunsch nach Liebesvereinigung abzubringen, vgl. z. B. »Denn alles, was
 
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