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Belvedere: Monatsschrift für Sammler und Kunstfreunde — Band 7.1925

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Riegl, Alois: Kunstgeschichte und Universalgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.69286#0014

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A L () 1 S RIEGL

unermeßliche wuchs, die fernabliegendsten Erscheinungen durch Vergleichung zusammen-
gebracht wurden: Dann fühlte er sich angeregt, dann vernahm er unwillig den Glocken-
schlag, der den ihn fesselnden Betrachtungen ein Ziel setzte, dann fand auch die Kunst-
geschichte Gnade vor seinen Augen.
Mein Hausarzt ist freilich ein Laie in Dingen der bildenden Kunst, und was er über
Kunstgeschichte denkt, mag uns somit im allgemeinen gleichgültig erscheinen. Ich hielt
es aber der Erzählung wert, weil es ganz symptomatisch ist für die modernste Entwicklung.
Man beachte: Es ist ein Naturforscher, ein denkender Naturforscher, der sich nicht mehr
begnügen will mit der bedächtigen induktiven Methode, die von seiner eigenen Wissen-
schaft den Namen hat, die vor allem die Einzelerscheinung prüft und nur mit äußerster Vor-
sicht den nächsten Schritt wagt zur unmittelbaren Ursache und Wirkung. Ein Natur-
forscher, der das Ferne zusammenzubringen sucht, ungeheurer Klüfte nicht achtet und
doch die Wahrheit zu finden hofft! Wenn die tagtägliche Beschäftigung mit der Natur-
forschung das Aufkommen solcher Geistesdichtungen gestattet: Um wie viel näher liegt
es auf anderen Gebieten, die wie die Kunstgeschichte, der Phantasie von Haus aus nicht
ganz fremd gegenüberstehen! Was mein Arzt von den nächsten Aufgaben der Kunst-
geschichte denkt, das denken eben schon die meisten Laien, die sich überhaupt über
derlei Dinge Gedanken machen; ja noch mehr: dasselbe denkt sogar die Mehrzahl der
Kunsthistoriker selbst.
Die Kunstgeschichte als Wissenschaft lebt noch kein Jahrhundert lang, und doch hat
sie schon zwei gründliche Wandlungen durchgemacht. Die Männer, die sie begründet
haben — die d'Agincourt, Rumohr u. v. a. — faßten das ganze weite Gebiet der
bildenden Künste als eine große Einheit. Sie waren keine Spezialisten, weder in der
Quellenkunde noch in der praktischen Kennerschaft; aber jede Erscheinungsform der
bildenden Kunst galt ihnen gleich wichtig und beachtenswert, und sie überblickten
daher in der Tat die ganze bunte Welt von den Pyramiden bis zu den Nazarenern
und faßten sie unter dem Gesichtspunkte einer einheitlichen Entwicklung. Sahen sie aut
solche Weise vor allem das Gemeinsame, so entgingen ihnen doch auch nicht die
markantesten Trennungsmerkmale, wodurch sich die Künste einzelner Völker und
Zeiten unterscheiden: Die großen Stilperioden, die wir heute jeder geschichtlichen
Betrachtung der bildenden Künste zugrunde legen, sind schon von jenen ersten Bahn-
brechern abgesteckt worden, die vielfach ein besseres Andenken verdient hätten als
man ihnen etwa seit der Mitte unseres Jahrhunderts zugebilligt hat. Aber beharren
durfte die Kunstgeschichte nicht auf diesem Standpunkte der Verallgemeinerung, wenn
sie auf den Ruf einer Wissenschaft Anspruch erheben wollte. Jene ersten »Kunst-
gelehrten« kannten zwar eine Unmasse von Kunstdenkmälern; aber gerade dieser
außerordentliche Umfang gestattete im einzelnen nicht mehr als eine bloß oberflächliche

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