FERDINAND GEORG WALDMÜLLER
Einzelform zu einer Vollendung der Stoffcharakteristik emporgewachsen, die in den
besten Dokumenten an die glänzende Stoffmalerei der alten Holländer mahnt. Das
Farbige ruht auf der eindeutigen Prägnanz der zeichnerischen Grundlagen. Besser: die
Farbe schafft selbst die zeichnerische Vollendung der Form. Sie zeichnet, sie modelliert.
Untrennbar diese absolute Deckung von zeichnerischer und farbiger Schilderung. Wald-
müller war — im Gegensatz zu Ingres — kein Zeichner. Die graphischen Möglichkeiten
der Linie umfaßten für ihn nicht die farbig-sinnliche Seite der Existenz. VValdmüllers
wenige Zeichnungen bleiben topographische Landschaftsnotizen. Das Bildnis entzieht
sich überhaupt zeichnerischer Niederschrift. Nicht nur, daß dem Realismus VValdmüllers,
der so unbedingt und unmittelbar dem sinnlich-farbigen Eindruck unterworfen war, die
Distanzierung plastisch-zeichnerischer Formabstraktion im Sinne Ingres' verschlossen
blieb, repräsentiert VValdmüllers Malerei zeitgeschichtlich eine spätere Phase. Ihr
realistischer Grundcharakter entwächst nicht klassizistischer Tradition, sondern ist un-
gleich stärker Auftrieb des Bodens, in einer genialen Begabung als absoluter Ausdruck
der Landschaft geschenkt. Und die individuelle Seite der Bildnisse: die objektive Treue
der sinnlichen Erscheinung ist so elementar, daß die neue Plastik der Porträts, die neue
Unmittelbarkeit der psychologischen Charakteristik mit der ganzen VVucht einer Ent-
deckung sich von den Bildnisdokumenten der barocken Zeit abhebt, den Bildnissen der
Alt-VViener und auch Krügers wesentlich illustrativ bleibender Bildniskunst unbedingt
überlegen. Die Frage geht hier nach Umfang und Tiefe des Psychologischen. Auch diese
Grenzen liegen in der zeitgeschichtlichen Bindung des künstlerischen Faktums: die
Generation VValdmüllers, wie keine später mehr sozial einheitlich, unproblematisch und
durchaus real, gab dem Maler (der ebenso bürgerlich lebte wie sie) das Bild einer
lebensfrohen und begrenzten Menschlichkeit. Sichere und kultivierte Existenz. Und
damit eine allgemeine Grundstruktur der psychologischen Situation, die die malerische
Einstellung auf ihre sichtbare Seite noch unterstützte. Aber trotz dieser Gleichartigkeit
der bürgerlichen Modelle eine außerordentliche Variabilität der psychologischen Be-
kenntnisse: aus der allgemein wirkenden Reihe von Bildnissen schöner Mädchen und
behäbiger Matronen und gleichgültig-leerer Männerköpfe erheben sich Denkmäler
psychologischer Vollendung, in den Darstellungsgrenzen ihrer objektiven Erscheinung
die ganze Tiefe des Lebensphänomens in eine unerreichte Gegenwärtigkeit hebend.
Vielleicht ist diese bürgerliche Kunst provinziell, weil ihr der große, freie Zug eines
VVeltmenschentumes fehlt. Aber dann ist sie provinziell in dem Sinne, in dem jede große
Kunst letzten Endes provinziell bedingt erscheint: in der Verwurzelung im Menschlichen,
in den Menschen eines bestimmten Bodens, einer bestimmten Landschaft. Aber sie
wächst in die Weltgeschichte der Malerei hinein, weil sie dies Menschliche mit der
tiefen Erlebensfähigkeit, mit der leidenschaftslosen Sachlichkeit einer großen Natur
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Einzelform zu einer Vollendung der Stoffcharakteristik emporgewachsen, die in den
besten Dokumenten an die glänzende Stoffmalerei der alten Holländer mahnt. Das
Farbige ruht auf der eindeutigen Prägnanz der zeichnerischen Grundlagen. Besser: die
Farbe schafft selbst die zeichnerische Vollendung der Form. Sie zeichnet, sie modelliert.
Untrennbar diese absolute Deckung von zeichnerischer und farbiger Schilderung. Wald-
müller war — im Gegensatz zu Ingres — kein Zeichner. Die graphischen Möglichkeiten
der Linie umfaßten für ihn nicht die farbig-sinnliche Seite der Existenz. VValdmüllers
wenige Zeichnungen bleiben topographische Landschaftsnotizen. Das Bildnis entzieht
sich überhaupt zeichnerischer Niederschrift. Nicht nur, daß dem Realismus VValdmüllers,
der so unbedingt und unmittelbar dem sinnlich-farbigen Eindruck unterworfen war, die
Distanzierung plastisch-zeichnerischer Formabstraktion im Sinne Ingres' verschlossen
blieb, repräsentiert VValdmüllers Malerei zeitgeschichtlich eine spätere Phase. Ihr
realistischer Grundcharakter entwächst nicht klassizistischer Tradition, sondern ist un-
gleich stärker Auftrieb des Bodens, in einer genialen Begabung als absoluter Ausdruck
der Landschaft geschenkt. Und die individuelle Seite der Bildnisse: die objektive Treue
der sinnlichen Erscheinung ist so elementar, daß die neue Plastik der Porträts, die neue
Unmittelbarkeit der psychologischen Charakteristik mit der ganzen VVucht einer Ent-
deckung sich von den Bildnisdokumenten der barocken Zeit abhebt, den Bildnissen der
Alt-VViener und auch Krügers wesentlich illustrativ bleibender Bildniskunst unbedingt
überlegen. Die Frage geht hier nach Umfang und Tiefe des Psychologischen. Auch diese
Grenzen liegen in der zeitgeschichtlichen Bindung des künstlerischen Faktums: die
Generation VValdmüllers, wie keine später mehr sozial einheitlich, unproblematisch und
durchaus real, gab dem Maler (der ebenso bürgerlich lebte wie sie) das Bild einer
lebensfrohen und begrenzten Menschlichkeit. Sichere und kultivierte Existenz. Und
damit eine allgemeine Grundstruktur der psychologischen Situation, die die malerische
Einstellung auf ihre sichtbare Seite noch unterstützte. Aber trotz dieser Gleichartigkeit
der bürgerlichen Modelle eine außerordentliche Variabilität der psychologischen Be-
kenntnisse: aus der allgemein wirkenden Reihe von Bildnissen schöner Mädchen und
behäbiger Matronen und gleichgültig-leerer Männerköpfe erheben sich Denkmäler
psychologischer Vollendung, in den Darstellungsgrenzen ihrer objektiven Erscheinung
die ganze Tiefe des Lebensphänomens in eine unerreichte Gegenwärtigkeit hebend.
Vielleicht ist diese bürgerliche Kunst provinziell, weil ihr der große, freie Zug eines
VVeltmenschentumes fehlt. Aber dann ist sie provinziell in dem Sinne, in dem jede große
Kunst letzten Endes provinziell bedingt erscheint: in der Verwurzelung im Menschlichen,
in den Menschen eines bestimmten Bodens, einer bestimmten Landschaft. Aber sie
wächst in die Weltgeschichte der Malerei hinein, weil sie dies Menschliche mit der
tiefen Erlebensfähigkeit, mit der leidenschaftslosen Sachlichkeit einer großen Natur
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