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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 3.1868

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Heft 8
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https://doi.org/10.11588/diglit.44083#0220
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>L> 214 o

— Was thue ich denn ? Wohin wende ich mich ?
Großer Gott, nun kommt die Nacht, die schreck-
liche, endlose Nacht! Ich muß unthätig hier im
Hause bleiben. . . O, mein armes Kind, es
wird vielleicht gemißhandclt!
Adele streckte bebend die Arme aus, als ob
sie das Kind vor Gewaltthaten schützen wollte.
— Madame, rief die Wärterin, Sie haben
ja Blut an den Händen.
Adele erschrak.
— Blut?
— Ja, ja!
— Wo?
— An den Spitzen Ihrer Finger.
— Ich weiß nicht, wie ich dazu gekom-
men bin.
Else trat schaudernd zurück.
— Madame, flüsterte sie, ich will lieber
gehen.
Die unglückliche Mutter hatte diese Worte
nicht gehört.
— Ach, flüsterte sie, Blut ist eine böse Vor-
bedeutung! Meine Ottilie wird wohl todt sein.
Blut, Blut!
Jammernd verhüllte sie das Gesicht mit
dem Battisttuche.
Die alte Bäuerin wollte leise das Zimmer
verlassen; ihr ward unheimlich zu Muthc in
der Nähe dieser Frau, die, wie sie wähnte, kein
gutes Gewissen hatte.
— Wohin? fragte Adele auffahrend.
Mit wirren Blicken starrte sie die Wär-
terin an.
Else erschrak heftig.
— Ich will unten die Thür schließen, Ma-
dame !
— Sie ist bereits verschlossen.
— Es wäre doch gut, wenn ich noch ein-
mal nachsähe . . .
— Tu starrst mich verlegen an; jetzt schlägst
Du die Blicke zu Boden . . . Else, warum zit-
terst Du? Wenn Du ein reines Gwissen hast,
kannst Du mich offen anschauen. Oh, Du fühlst
Dich schuldig ... Ich lese in Deinem Herzen
. . . Weib, bekenne, daß Du mein Kind fort-
getragen hast! Du bist eine bezahlte Betrüge-
rin . . . Bekenne: wohin hast Tu mein Kind
gebracht?
Die arme, von Schmerz betäubte Frau stand
drohend vor der Wärkcrin.
— Ich, ich? schrie Else auf.
— Entreiße die jammernde Mutter der Ver-
zweiflung! Im Namen Gottes, Weib, habe
Erbarmen!
Sie wollte Else's Hand ergreifen; eine
Ohnmacht vereitelte ihr Bemühen ... sie sank
auf die Kissen nieder, die noch zerstreut am Bo-
den lagen.
Else stand zitternd'neben der Thür.
— Es ist nicht richtig mit ihr! flüsterte sie
vor sich hin. Die Wirtschaft konnte nicht lange
dauern, sie mußte so ausgehen. Das arme
Kind mag wohl irgend wo hingescharrt sein ...
Der Gerichtsamtmann findet es schon ... Ich
werde nicht anklagen, aber wenn man mich
fragt . . . Möchte doch wohl wissen, wer das
Kind stehlen sollte, das überall zur Last ist.
Adele stieß einen schmerzlichen Seufzer aus.
— Blut! Blut! delirirte sie. Ich habe
das Blut an meinen Händen gesehen!
Noch einmal strengte sic sich an, den Kopf
cmporzuheben; sie brach wimmernd wieder zu-
sammen, dann blieb sie ruhig liegen.
Die Bäuerin ergriff die Flucht; sie eilte
aus dem Hause über die Wiese und erzählte

dem Waldhüter, was geschehen. Kunze, der
von dem Förster Auftrag hatte, über die Nach-
barin zu wachen, begab sich schleunigst nach dem
Landhause; ihm auf dem Fuße folgte die Frau,
die sich mit der ohnmächtigen Adele beschäftigte
und sie zu Bett brachte. Die ihres Kindes be-
raubte Mutter war so erschöpft, daß sie in einen
unruhigen Schlummer versank. Wirre Träume
peinigten sie; bald sprach sie mit dem Kinde,
bald mit dem Grafen, den sie flehentlich bat,
er möge ihr Ottilien zurückgeben, es sei dies
ja das einzige Wesen auf dieser Erde, an dem
ihr Herz hange; sie wolle die Gegend verlassen,
flüsterte sie betheuernd, damit der Graf in sei-
ner Ehe glücklich werde, und Niemand sollte er-
fahren, daß Otto sie zuvor geliebt habe. Dann
wieder brach sie in Vorwürfe aus, klagte Sa-
binen der Lieblosigkeit an und weinte heiße
Thränen. Der ehrliche Waldhüter übergab die
Kranke seiner Frau und eilte mit dem Morgen-
grauen nach dem Forsthause, um seinem Herrn
die Ereignisse zu melden. Richard hatte den
Boten bestürzt angehört.
— Kunze, fragte er, glaubt Ihr an die
Schuld der armen Frau?
— Nein!
— Ihr seid bejahrt, habt Menschen und
Dinge kennen gelernt . . .
— Herr Förster, verlassen Sie sich darauf,
die Dame hat ihr Kind nicht umgebracht, sie
hatte es viel zu lieb, auch ist sic zu gut, um
ein so schweres Verbrechen zu begehen. Aus
der einfältigen Else spricht die Angst. Ich
bleibe dabei: das hübsche Kind ist gestohlen.
Der Waldhüter mußte nun den Arzt aus
dem nächsten Dorfe holen. Richard schrieb einen
Brief an Sabinen, in dem er ihr das Geschehene
mittheilte und sie bat, die Kranke zu besuchen.
Diesen Brief mußte ein Knecht sofort nach der
Stadt tragen. Er selbst sattelte sein Pferd,
sagte der Mutter, daß er in den Forst müsse,
und jagte nach dem Landhänschen, das er bald
erreichte. Else, die zurückgekehrt war, stand in
der Thür; sie berichtete, daß Madame aufgc-
standen sei und sich in dem Wohnzimmer befinde.
— Melden Sie mich an!
Es geschah.
Fünf Minuten später trat Richard in das
Zimmer.
Adele saß auf dem Sopha; sie sah sehr
bleich aus und hatte verweinte Augen.
— Kommen Sie als mein Schützer? fragte
sie ruhig.
— Ich kann mich nur in der besten Absicht
Ihnen nähern; Sie wissen ja, daß ich Sie Hock-
schätze.
— Ach ja, ich weiß cs! flüsterte sie ganz
leise.
— Der Waldhüter brachte mir die Meldung
von dem, was hier geschehen . . .
Sie brach in Thränen aus.
— Man hat mir mein liebes Kind geraubt!
— Ich werde die umfassendsten Nachfor-
schungen austellen; seien Sie versichert, daß wir
den Thätcr entdecken. Aber denken Sie auch
an sich und geben Sie sich nicht übermäßigem
Schmerze hin . . .
— Ich soll den Kelch des Leidens bis auf
den Grund leeren! flüsterte sie schmerzlich.
— Es werden auch wieder bessere Tage
kommen! tröstete Richard, in dem sich das in-
nigste Mitleid regte.
— Ich lebte still und abgeschieden von der
Welt . . . man gönnt mir die Ruhe nicht, die
ich mir gewaltsam angecignet . . . Soviel ich

auch sinne, ich erinnere mich keiner Handlung,
die mir hätte Feinde zuziehen können . . .
Richard hätte gern gesagt: „Ihre Schönheit
erweckt den Neid und Neid ist Feindschaft, die
erbittertste Feindschaft;" aber er schwieg, um in
dieser schrecklichen Stunde nicht Schmeicheleien
zu sagen, die verletzen mußten.
— Das Gebet, fuhr Adele fort, das ich
zum Himmel gesendet, hat mein Herz mit ruhi-
ger Ergebung erfüllt; Gott wird mein Kind schü-
tzen nnd das Verbrechen an das Licht bringen
... Es geschieht ja nichts ohne den Willen
des Höchsten, der aller Menschen Schicksale leitet.
— O, das ist der rechte Glaube! rief Ri-
chard.
— Herr Förster, ich erblicke in Ihnen einen
von Gott gesendeten Boten; ach, könnte ich Ihnen
lohnen, wie Sie cs verdienen . . .
— Sprechen Sie jetzt nicht über diesen
Punkt.
— Und doch muß ich es, doch muß ich
Ihnen erklären, daß ich nur durch Worte danken
kann, da mir die Vorsehung einen Platz in der
menschlichen Gesellschaft angewiesen, der tief
unter dem Ihrigen steht. Verhehlen Sie es
mir nicht, Herr Förster . . .
Sie preßte beide Hände auf den Busen.
— Es wird mir schwer, die Frage auszu-
sprechen! sagte sie nach einem tiefen Seufzer.
— Fragen Sie immerhin, ich werde offen
und ehrlich antworten.
— Aber Sie verzeihen der tiefgebeugten
Mutter, die von bangen Zweifeln hin- und her-
geschleudert wird, die in jedem Menschen einen
Feind erblickt.
— Es ist dies erklärlich.
— Und Sie möchte ich gern für den auf-
richtigen Freund halten.
— Ich bin es auch.
— Eine Seele muß ich doch haben . . .
— Fragen Sie, fragen Sie! mahnte Richard.
Adele faßte Muth.
— Herr Förster, ich habe Grund, Fräulein
Sabine Roland zu mißtrauen.
— Und ich pflichte Ihnen bei.
— Auch Sie, Herr Förster?
— Ich habe mein Wort gegeben, offen
zu sein.
— Sabine hat stets das Beste über Sie
gesprochen.
— Ich würde, wenn das Gcgentheil der
Fall gewesen, sehr ernst ausgetreten sein, da ich
mich wissentlich nie einer Schlechtigkeit schuldig
gemacht.
Die Blicke Adelens glänzten hell ans.
— So kommen Sie aus freiem Antriebe
zu mir?
— Meinem Herzen lasse ich nicht gebieten.
— Sie handeln nicht im Auftrage Sabinens?
— Eine Empfehlung der Dame halte ich
nicht für einen Auftrag.
— Herr Förster! rief Adele mit Genug-
thuung, Sie verstehen mich, Sie wissen meine
Worte zu deuten!
— Ich verstehe Alles, seit ich weiß, daß
die Gemahlin des Grafen von Ravenstein die
Nichte Fräulein Sabinens ist. Die reichen
Leute pochen auf ihr Geld, sie wähnen, Glück
und Ehre damit erkaufen zu können; in der
Regel täuschen sie sich nicht . . . aber es gibt
doch Fälle, die eine Ausnahme von dieser Regel
bilden.
Adele wiegte traurig das Haupt.
— Welche Stellung nehme ich Ihnen gegen-
über ein! flüsterte sie schluchzend. Was müssen
 
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