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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 35.1900

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Heft 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.56331#0041
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30

Das Zugd ur Alle




Marianne ſollte inzwiſchen von ſeiner Mutter durchs
Haus geführt werden.

Faſt feierlich mar der Umzug durch das große Haus.
Mademoiſelle Berton, der Diener, das Stubenmädchen
leuchteten voran, trotzdem überall Lampen und Kerzen
brannten.

Marianne ward ein unheimliches Gefühl nicht los,
während ſie die Wohnräumẽ ſah, in denen Frau Lucie
gewaltet und geſchaltet hatte. Eine übertriebene Pietät
hatte kleine Erinnerungen an die erſte Frau Stephans
aͤufbewahrt! Es fonnte gewiß nicht im Sinn von
Stephans Mutter, die die Neueinrichtung übernommen
hatte, gelegen haben, ſie damit zu verleben; und doch


Fauſtſchläge, als verwundende Nadelſtiche.

Die Unterhaltung, die dabei ſtattfand, brachte die
beiden Frauen einander nicht näher. Marianne atmete
auf, als ihr Gatte endlich hinzukam.

Soeben war Frida heimgekehrt, von Fräulein Berton
in Empfang genömnien und auf des Hausherrn Wei-
ſung ſofort ins Bett geſteckt, weil ſie total durchfroren
war. Stephans Stirn war umwölkt, als er das be-
richtete.

Beim Rundgang durch die Räume ward ſein Antlitz
immer Ddüfterer. Auch ihm war es, als ob alle Gegen-
ſtände, die in irgend einer Beziehung zu Lucie geſtanden
hatten, ſorgfältig hervorgeſucht und hier gewiſſermaßen
zur Schau geſtellt ſeien.

Mehrmaͤls zuckte er ſchmerzhaft zuſammen. Nur
ihm — und vielleicht der Mutter — war die Bedeu-
tung dieſer kleinen Geſchenke aus der Brautzeit, aus
der kurzen Zeit der Ehe bekannt. War ſeine Mutter
etwa wirklich mit Abſicht ſo grauſam geweſen, die Er-
innerungen ans Licht zu ziehen, ſtatt ſie bei dieſem
Anlaß endgültig ins Grab zu verſenken?

Bei ſeinen brieflichen Anordnungen über die Neu-
einrichtung, die Verteilung der Zimmer und ſo weiter
hatte er in dieſer Hinſicht natuͤrlich keine beſonderen
Wünſche geltend gemacht, ſondern alles dem Zartgefühl,
dem Takt der — überlaſſen. Er ſah ſich nun
bitter enttäuſcht.

Als man in ſein Arbeitszimmer gelangte, das an
Fridas Altanſtube ſtieß, blieb er mie gebannt auf der
Schwelle ſtehen, und auch Marianne zögerte einzu-
treten.

Mitten auf der ſonſt leeren Wand zwiſchen dem
Schreibtiſch und der Thür befand ſich das lebensgroße
Bild von Frau Lucie.

Stephan erinnerte ſich, ſeiner Mutter geſchrieben zu
haben: natürlich dürfe bei der Umräumung Lucies
Bild nicht im Erkerzimmer, wo ſich Marianne meiſtens
aufhalten werde, hängen bleiben! Wie hatte ſie aber
dies dahin auffaſſen koͤnnen, daß es als einziger Schmuck
in ſeine eigene Stube kommen ſollte? Ein leidensvoller
Blick aus feinen grauen Augen ſtreifte das ernſte, harte,
unbewegte Antliß der Mutter. Verſtand ſie ihn wirk-
lich nicht? Wollte oder konnte ſie ihn nicht verſtehen?

Unwillkürlich hatte ſein Arm den von Maxianne
geſucht. Zitternd fanden ſich ihre Hände. Auch Ma-
rianne ſchien in großer innerer Bewegung. Ganz


haarigen Frau. Sie ſah im Geiſt ſofort wieder die
brünelte Kleine mit dem trotzigen Mund vor ſich ſtehen,
im Dämmer der Bahnhofshalle.

Stephan preßte ſein junges Weib leicht an ſich.
Er wollie in dieſer, ihm weihevollen Stunde kein
grollendes Wort zu feinẽr Mutter ſprechen. Aber ſie
fowohl als auch das Geſinde ſollten erfahren, daß
fortan die tote Erinnerung dem blühenden Leben Platz
machen müſſe.

„Das Bild,“ ſagte er in ruhigem, feſtem Tone
zum Diener, „gehört von heute an in Fridas Zimmer.
Nehmen Sie es ab und hringen Sie es dorthin. “

Im Speiſeſaal, der ſich im oberen Stockwerk be-
fand trat dem jungen Paar Hubert Leonard entgegen.
Er hatte ſich mit einem großen Strauß herrlicher Orchi-
deen verſehen, die er eigens aus Genf verſchrieben,
und überreichte ihn der neuen Hausfrau.

„Ich will Sie nicht lange ſtoͤren, meine Gnädige,“
ſagte er in ſeiner gewandten, lebhaften Art, „aber es
drängt mich, als getreuer Nachbar und als aufrichtiger
Freund dieſes Hauſes Sie mit unter den Erſten zu
begrüßen!“

Stephan ſtellte ihn vor. Nach all den Taktloſig-
keiten, deren Opfer er gleich der armen Marianne ge-
worden war, empfand er es ordentlich als Wohlthat,
daß Hubert Leonard über das nunmehr erloſchene Ver-
wandtſchaftsverhältnis ſchwieg. Marianne, die ſeinen
Namen durch ihren Gaͤtten kannte, mar ja grientiert;


Bruder Lucies hatte ſich Marianne vielleicht noch mehr
gefürchtet als vor Stephans Mutter. Erleichtert atmete
fie nun auf, als ſie in ihm keinen finſteren Menſchen
kennen lernte, der, wie die alte Frau Lugenz und wie
Frida, ſie als einen Eindringling anſah, ſondern daß
er ſich als umgänglicher, intelligenter, jovialer Lebe-
mann gab.

Hubert Leonard war ein ſo geſchickter Komödiant,



daß er auch beſſere Seelenkenner und lebenskundigere
Leute als dieſe beiden offenen, herzensguten Menſchen
getäuſcht haben würde. Marianne lud ihn ſelbſt ein,
zum Thee zu bleiben. Er nahm ohne Umſtände an
und unterhielt den Kreis während der Mahlzeit ſo leb-
haft, daß die Schatten der tiefen Verſtimmung von
Stephan ſowohl als auch von ſeiner jungen Frau
wichen.

Die lange Reiſe hatte Marianne ermüdet! und
Hubert mar aufmerkſam genug, um dies zu berück-
ſichtigen. € mar noch nicht zehn Uhr, als er ſich
mit biederem Händedruck von Stephan und Handküſſen
von den beiden Damen empfahl.

Seinem Einfluß mar es zuzuſchreiben, daß auch
Frau Lugenz nach ſeinem Foörtgang ihres geheimen
Grolls gegen Marianne Herr zu werden oder wenigſtens
äußerlich das Dekorum zu wahren ſich bemühte. Herz-
lich ward der Ton zwiſchen ihr und der Schwieger-
tochter aber auch jetzt noch nicht.

Stephan ſah ſich endlich mit ſeinem jungen Weib
allein. Nun umfchlang er mit der Rechten ihren Nacken
und ſchritt in zärklichem Geplauder mit ihr durch das
warnie hellerleuchtete Gemach! Er überragte die zarte
Geſtall um anderthalb Kopflängen. Wie ein Kind
erſchien ſie gegen.ihn. Wenn er ſo mit ihrem blonden,


breite Bruͤſt lehnte, dann fühlte ſie ſich bei ihm faſt
wie unter väterlichem Schutz. Und in dieſer Stunde
der Ausſprache fand ſie ihre ganze liebevolle Zuver-
ſicht wieder, die ſie heute beim Anblicke der furcht-
baren Bergesrieſen und dann bei der Ankunft dem


über verloren hatte.

Bevor ſie ihr Schlafzimmer aufſuchte, ſprach ſie
aber — ſchon ihrem Gaͤtten zuliebe — den Wunſch
aus, noch einmal Frida zu ſehen.

Ein glückliches Lädheln, ein Hoffnungsſchimmer ver-
ſchönte ſöfort das ernſte Antlitz des Hünen.

„Komm, Marianne,“ ſagte er leiſe und zärtlich.

Und auf den Zehen ſchritten ſie durch Stephans
Arbeitszimmer nach dem hellen, ganz in Weiß und
Gold an Möbeln, Tapeten, Gardinen und Decke ge-
haltenen Zimmer der Kleinen.

Lucies Bild war von der Wand neben Stephans
Schreibtiſch verſchwunden; es hing nun übex Fridas
Bett. Eharakteriſtiſch hob ſich der pikante Kopf mit
den großen, dunklen Augen und dem ſchwarzen Haar
von dem hellen Ton der ganzen Umgebung ab.

Faſt unhörbar trat Marianne an das Bett des
Kindes. Die Kleine ſchien noch nicht geſchlafen zu
haben, denn ſie fuhr ſofort im Bett empor und blieb
wie erſtarrt, als Marianne ſich näherte.

Langſam folgte Stephan ſeiner Frau. „Willſt du
nun recht lieb ſein, meine Kleine,“ ſagte er in hei-
terem, freundlichem Ton, „und deiner neuen Mama
gute Nacht ſagen?“

Das Kind, mager, blaß und überſchlank in dem
bis auf die Zehen fallenden Hemdchen, hatte ſich dicht.
an die Wand zurückgelehnt.„Ich will nicht — —
ich will nicht! kam es trotzig und ängſtlich von ihren
Lippen. Schreckhaft war der Blick ihrer großen dunklen
Augen auf Marianne gerichtet.

„Frida!! bat die Stiefmutter leiſe, verzweifelt, in
herzbewegendem Ton.

Raſch fuhren die dünnen Aermchen des Kindes em-
por. Die kleinen Hände klammerten ſich an den un-
teren Rahmenrand des über dem Bett hängenden Bildes.

„Das iſt Mama! Das iſt meine Mama!“ ſtieß
das Kind faſt leidenſchaftlich hervor.

Es war ein furchtbarer, gramvoller Blick, den
Stephan Lugenz der mageren, kleinen weißen Geſtalt
zuwarf. Kein Wort erwiderte er, wandte ſich vielmehr
jäh ab und verließ das Zimmer.

Marianne verharrte noch ein paar Sekunden lang
regungslos an derſelben Stelle. Es ward Nacht um
ſie herum, denn Stephan, der die Lampe getragen,
hatte ſie auf ſein Pult im Nebenzimmer niedergefetzt.
Noch einmal wollte ſie der Kleinen zuſprechen, aber
Da überkam ſie wieder das namenlos ſchmerzende Heim-
wehgefühl, und hinfällig und gebrochen, taſtend ſich den
Weg ſuchend, folgte ſie dem Gatten.

Als ſie ſich an der Thür umwandte, ſah ſie noch
immer die kleine Geſtalt wie in einem Krampf, ſchutz-
ſuchend, ſich an das Bild anklammern.

Sie ſchloß die Thür hinter ſich. Ein Schwindel
erfaßte ſie! Wäre nicht Stephan ihr zu Hilfe geeilt,
ſie hätte das Gleichgewicht verloren und wäre an der


Drittes Kapitel.

Das waren trübe, bange Flitterwochen!“

Stephan Lugenz ſah voll Verzweiflung endlich ein,
daß er das Kind ſeinen eigenen Weg gehen laſſen
mußte. In welch furchtbaren Konflikt mit ſich ſelbſt
war er dadurch aber geraten! War er es nicht geweſen,
der in das wachsweiche, ſo aufnahmefähige Herz des
noch ſtammelnden Kindes die Liebe zur Mutter ein-



gegraben hatte? Frida kannte ihre Mama nur aus
den Bildern, die man ihr gezeigt hatte! Vielleicht war
es aber das Geheimnisvolle, das Ueberirdiſche, das
der Geſtalt ihrer Mutter ſeit deren Tode anhaftete,
wodurch die zärtliche Sehnſucht des Kindes um ſo
leidenſchaftlicher geweckt worden war.

„Die Mutter ſieht alles!“ hatte man der Kleinen
mit wichtiger Miene geſagt, um ſie auch ohne Aufſicht


es des Abends, wenn das Kind ſich fürchtete, allein
in der dunklen Stube einzuſchlafen. „Mutter ſchenkt
dir al die ſchönen Sachen !“ erzählte man ihr zu Weih-
nachten. *— .
So hatte ſich die Phantaſie Fridas eine märchen-


tum in ihrem Herzen huͤtete.
Nun hieß es alſo ſich in Geduld faſſen-

Stephan beſaß wenigſtens den Troſt der Arbeit,
die ihn ſofort in Anſpruch nahm, die ihn über den
* grämlichen, gereizten Ton im Hauſe hinweg-
etzte.

In der ganzen Nachbarſchaft von Siders hatte man
ſchon ſehnſüchtig auf ihn gewartet. So geeignet ſich
der Stellvertreter des Doktors gezeigt hatte, Stephan


trauen der Patienten, und namentlich ſchwierige Ope-
rationen wollte man nur von ihm ausgeführt wiſſen.
So fam’8s, daß er ſeiner jungen Frau, ſeinem Hauſe
überhaupt, täglich nur wenige Stunden widmen konnte.
Mit Frida und ſeiner Mutter war er eigentlich nur
während der Mahlzeiten beiſammen.

Natürlich fühlie ſich Frau Lugenz, die ſo ganz an die
zweite Stelle gerückt mar — namentlich auch in hHaus-
wirtſchaftlichen Dingen — fehr zurückgeſetzt. Und auch
Frida litt ungemein unter der Vereinſamung. Da-
durch wuchs in beiden der Groll gegen Frau Marianne,
die thun oder laſſen mochte, was ſie wollte: ſtets fand
ſie eine gehäſſige Beurteilung. Fridas Charakter wandte
ſich durch den Zwieſpalt geradezu zum Schlechten. Das
früher ſo zärtliche und ſchmiegſame Kind ward trotzig
und verdroffen. In ſich gekehrt lebte es dahin, mit
niemand mehr ſo recht Freund, nicht einmal mehr mit
dem Vater. *

Am aualvollſten von allen litt Frau Marianne
unter dieſem Zuſtand. All ihre Verſuche, ſich dem
Herzen des Kindes zu nähern, waren vergeblich! Und
es verlangte ſie ſo danach, nach allen Seiten Güte
und Liebe austeilen zu fönnen. Frida war kein Durch-
ſchnittskind! Ihre Intelligenz, ihre reichen Anlagen
haͤtten Marianne intereſſiert, auch wenn die Kleine
nicht das Kind des von ihr ſo heißgeliebten Mannes
geweſen wäre. Doch das weiche, liebebedürftige Herz
der jungen Frau blieb einſam nach wie vor, trotz all


eine ganz natürliche Ueberwindung gekoſtet hatten. Sie
hatte ſich, um auch Frida gegenüber unbefangen zu
ſein, felbſt gezwungen, Frau Lucie zu vergeſſen, ihre
Schwiegermulter und Onkel Hubert aber thaten alles,
um bei dem Kinde die Erinnerung fortgeſetzt rege zu
halten und dadurch die Stiefmutter abzuwehren,

Sie wagte es gar nicht, den Eltern über ihr Er-
gehen nach Hauſe zu ſchreiben! Und ſie fürchtete ſich
zeradezu vor einem Wiederſehen mit ihnen, Profeſſor
Fränkel und ſeine Frau hatten ihrem Schwiegerſohn
verſprochen, die kommenden Ferien ausnahmsweiſe nicht
an der See zu verleben, ſondern im Hochſommer nach
der Schweiz zu kommen, um ſich vom Glück ihrer
Tochter mit eigenen Augen zu überzeugen.

Vom Glück ihrer Tochter! Marianne ſaß
ſtundenlang allein in dem von Frühlingsſtürmen wild
umbrauſten Hauſe, trübſelig und zukunftsbang ſtaͤrrte
ſie übers Thal hin, empor zu den furchtbaren, ihre
Sinne beängſtigenden Alpenrieſen! Während Stephan
ſich in der Praxis befand, hatte ſie keinerlei Geſellſchaft:
Frida wollte ſich von Mademoiſelle Berton nicht tren-
nen; Frau Lugenz hielt ſich grollend in ihrem Zim-
mer auf. Und kam der Gatte dann, müde und ab-
geſpannt von ſeiner Berufsthätigkeit, ſo ſah er mit
Kummer ihr blaſſes Geſicht, ihre verweinten Augen.

Mit Worten beklagte ſie ſich nicht. Was ſollte ſie
ihm auch ſagen, wenn er mit Bitten in ſie drang, ſich
ihm zu offenbaren? Daß ſie ſo namenlos unter dem
Heimweh litt? Daß jeden Zug, der hier aus dem
unwirtlichen Rhonethal hinab in die Ebene eilte, heiße,
ſehnſuchtsvolle Grüße an die Heimat, an die ſtille
nordiſche Heide, die blaue See, die grünen Wälder,
und vor allem an die geliebten Eltern begleiteten? —

Endlich hielt der Lenz ſeinen Einzug auch auf dieſen
Höhen. Der Schnee ſchmolz in den unteren Regionen,
die Gebirgsbäche ſchwollen an, die dürren Aeſte der
Bäume, die rutenartigen Büſche zeigten das erſte
ſproſſende Grün.

Nun hielt ſich Stephan Lugenz aber noch weniger
als zuvor daheim bei ſeinem ihm jungvermählten Weibe
auf. Wie mit magiſcher Gewalt lockte es ihn hin-
auf auf die Berge. Waren auch die eigentlichen Hoch-
touren wegen der Lawinengefahr noch nicht ratſam, ſo
unternahm er doch, um wieder in Uebung für den
 
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