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Jahrg. 1900.







Im ewigen Schnee.

Roman von Paul Pskar Höcher.

(ForffeBung.)

Nachdruck verboten.)

o ijt Frida? Wo iſt meine Tochter?“
EIrief der Doktor, den Dienern haſtig in
die Rede fallend.
Sie ſahen ſich verwundert um, denn
ſie hatten angenommen, daß das Kind
Z u einem der auf der Straße halten-
den beiden Schlitten vorausgeeilt ſei.

Man forſchte nach — im Schlitten war ſie nicht —
auch die beiden Pferdehalter hatten die Kleine nicht
geſehen.

Lugenz ſchüttelte den Kopf und ſtrich nachdenklich
über feinen dunkelblonden Vollbart. Dann richtete
er ſeine hohe, breitſchulterige Geſtalt auf und kehrte
feſten Schrittes zu Marianne zurück. „Die kleine
Thörin!“ ſagte er gutmütig brummend, wie um das
peinliche Borkommnis zu entſchuldigen! Als er den
Arm ſeiner jungen Frau in den ſeinen legte,
fühlte er, wie ſiẽ zitterte. „Du mußt dir keine
Soͤrge machen, mein Liebling,“ ſagte er bittend.
„Es wird ſchon alles gut werden.?

Sie nickte heftig mit dem Kopf, ihre Thrä-
nen zurückdrängend.

Draußen auf der Landſtraße hob Stephan
ſeine junge Frau in den vorderen Schlitten —
dann zogen die Pferde an..

Allzu Mächtiges war in den letzten Stunden
auf Marianne eingeſtürmt. Sie ſah zum erſten-
mal in ihrem Leben die Schweiz — hatte bis-
her überhaupt noch kein Gebirge kennen gelernt.
Zugleich mit dem Staunen, der Bewunderung
über das Gigantiſche der wunderbaren Alpen-
gegend, durch die ſie der Zug führte, hatte ſich
iber ſo etwas wie Heimweh bei ihr eingeſchlichen.
Sie war ein Kind der Ebene, liebte die Heide,
die Wälder ihrer nordiſchen Heimat, die blaue
See mit ihrem weißen Strand, an der ſie die
ſchönen Sommertage immer verlebt hatte.

Solange die Reiſe mit ihrem Gatten durch
die großen deutſchen Städte mährte, auch als
jie das ſchon im erſten Frühlingsſchmuckprangende
Rheinland mit ſeinen Bergen und Burgen ſah-
hatte ſie ſich noch zu Hauſe gefühlt. Sie beſaß
ja ſo unbedingtes Vertrauen zu ihrem Mann,
daß ſie beim Abſchied von den Eltern nicht ein-
mal geweint hatte. So innig ſie Vater und
Mutter liebte — ihr Herz hätte ſich ſo raſch
und unlösbar zu dein des hühenhaften, präch-
tigen, offenen Mannes gefunden, daß ſie ſich
an ſeiner Seite ganz und gar geborgen wußte.
Erſt hier, wo die unendlichen Schneehäupter
dräuend und ehrfurchtgebietend hüben und drü-
ben von der Bahn in die Liüfte ragten, mächtige
Felsabſtürze, ſchwindelnde Abgründe, toſende
Vaſſerfälle das Auge ängſtigien — erſt hier















überkam ſie eine namenloſe Sehnſucht nach dem ſtillen,
friedlichen Städtchen da unten in der heimatlichen Ebene.
Und gleichzeitig mit dem befremdlichen Verhalten dex
kleinen Stieftochter ſchnürte ihr däs Heimweh nach
Vater und Mutter die Kehle zu, ſo daß ſie auf Stephans
4 Worte während der Fahrt gar nichts erwidern
onnte.

Er hatte den größten Teil ſeines Lebens in der
Schweiz zugebracht und er liebte die Berge. Cr ge-
ſtand ihr auch, daß ihn oftmals während der Reiſe
durchs Flachland ein wahres Fieber ergriffen habe,
raſch, raͤſch wieder in den Schoß ſeiner Alpen zurück-
zukehren. Es war ihm oft geweſen, als fönne er da
unten nicht atmen. Kührend mar ſeine Glückſeligkeit,
als der Zug ihn nun endlich zu ſeinen geliebten Vergen


am Genfer See entlang, erklärte er ihr die Namen
der jenfeits auftauchenden Schneerieſen. Wie ein
Jauchzen kam es aus ſeiner Bruſt, als er den Mont-
blanc begrüßte, die ganze Kette der Walliſer Alpen


Dann hatte die Dämmerung die Fernſicht verhüllt,
und Stephaͤn hatte ſich dicht neben ſein junges Weib
geſetzt, ihrẽ Schulter umſchlingend, um wieder von ihrem
neuen Daheim zu plaudern. Dieſer Hüne an Geſtalt




Nach einer Photographie von Georg Brokeſch in Leipzig. (S. 35)



konnte mit ſeinem mächtigen, tiefen Organ ſo zärtlich
zuſprechen und ſich in ſeinem ganzen Gehaben ſo für-
forglich zeigen, daß auch ein ſo überaus zart beſaitetes
Weſen wie Marianne Zutrauen zu ihm faſſen mußte.

Dennoch fühlte ſich Marianne, jeitdem man in
Stephans Heimat angekommen war und man ſich mehr
und mehr der kleinen Alpenſtadt näherte, in der er
ſeine Muͤtter und ſeine Tochter zurückgelaſſen hatte,
ihm fremder als zuvor. Neben dem Heimwehgefühl,
das fie nach der Heide ergriff, tauchte die Angſt vor
dem Kinde jener Frau Lucie in ihr auf.

Sie beſaß keinẽ kleinen Geſchwiſter, ſie kannte die
kleine Welt überhaupt nicht mehr — ſo fürchtete ſie-
daß ſie den rechten Ton nicht finden werde, um ſich
die Zuneigung dieſes fremden Kindes zu erwerben.
Denn fremd war es ihr, ob es auch Stephans Tochter
war. Sie wußte, daß ſie immer an die erſte tote
5* würde denken müſſen, wenn ſie die Kleine an-

ickte.

Und nun der froſtige Empfang durch das rätſel-
volle, trotzige Kind!

Marianne lehnte ſtill und matt während der Fahrt
im Schlitten im Arm ihres Gatten.

„Es wird ſchon alles gut werden !“ tröſtete Stephan
noch einmal ſein verſchüchtertes junges Weib.

Endlich fuhr der Schlitten im Bogen zu der
herrſchaftlichen Villa empor. Alle Fenſter waren
ſtrahlend erleuchtet. In der Vorhalle, die mit
Blumen geſchmückt war, ſtand eine hohe, dunkle.
Geſtalt, auf den Krückſtock gelehnt. Es war
Stephans Mutter.

Mit einer gewiſſen Strenge blickte ſie das
junge Weib an, das ihr Sohn aus dem
Schlitten hob.

Marianne gedachte mit Trauer im Herzen des
lieben, freundlichen Geſichts ihrer eigenen Mutter.
Dieſe große, harte Frau da vor ihr muſterte
ſie wie einen Eindringling! Sie fühlte ſich in
dieſem Augenblick ſelbſt wie eine Verbrecherin,
und die noch von vorhin loſe ſitzenden Thränen
brachen wieder hervor.

Mit herzlichen, warmen Worten machte
Stephan die beiden bekannt. Frau Lugenz
nickte und hieß die junge Frau willkommen.
Es waren ein paar freundliche Redensarten,
bei denen das Herz kalt blieb, wie auch
kaum der Geſichtsausdruck der alten Dame
wechſelte-

Marianne neigte ihr Haupt und küßte die
Hand ihrer Schwiegermutter. Die ließ es ge-
{ehen. |

Dann legte man ab, und Stephan erzählte
dabei der Mutter, wie thöricht ſich Frida be-
nommen habe. Er that ſo, als lege er dem
ganzen Vorkommnis kein Gewicht bei! Sein
bekümmerter Ausdruck verriet aber, wie tief es
ihn getroffen hatte.

Als nun der Schlitten mit dem Gepäck an-
langte, ohne daß der Diener, der nach der Klei-
nen hatte Ausſchau halten ſollen, etwas über
Fridas Verbleib mitteilen konnte, nahm Ste-
phans Beunruhigung ſichtlich zu. Er wolle ſich
ſelbſt aufmachen, um ſie zu ſuchen, ſagte er;
 
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