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Das Bud —



‘ 31



Sommer zu kommen, ſo oft ſeine Patienten ihm Muße
ließen, ausgedehnte Märſche bis zu fernen Thalſchlüffen
oder Kletterpartien in der näheren Umgebung.

Die Furcht Mariannes vor den ihr ungeheuer-
lichen Schneebergen trug auch noch das ihre Dazu bei,
um die beiden Menſchen, die ſich zuvor den Himmel
auf Erden erträumt hatten, zu trennen.

Stephan hatte ſeine Frau wohl ein paarmal auf-
gefordert, ihn wenigſtens auf ſeinen Spaziergängen
im Thal zu hegleiten; da ihr aber die neuerdings allzu-
häufige Geſellſchaft Hubert Leonards läſtig geworden
war, der von Stephan unzertrennlich ſchien, ſo lehnte
ſie ab; und ſeitdem ſtiegen die beiden Männer ſtets
allein ins Gebirge, ohne daß Marianne auch nur mit
einem Wort über die Richtung, über Ziel und Zeit-
dauer der Tour unterrichtet worden waͤre

Eine wahre Verzweiflung überkam die junge Frau.
Wozu mar ſie überhäupt hier? So mußte ſiẽ ſich fragen.
Der Mutter Stephans mar ſie ein Dorn im Auͤge,
für Frida war ſie nur ein Gegenſtand leidenſchaftlicher
Eiferſucht — und was galt ſie ihrem Gatten? Nicht
einmal als guter Wanderkamerad diente ſie ihm; Hubert
Leonard exſetzte ſie ja volllommen. Die beiden hatten
in neuer Zeit überhaupt ſo viel über Geſchäfte mit-
einander zu reden, daß ſie ſich ganz und gar überflüſſig
vorkommen mußte. Sie verſtand ja von dieſen Dingen
nichts. Und Stephan hatte ihr's ſo traulich ausgemält,
wie es hier in Siders werden ſollte. Man wollte
keinen gefellſchaftlichen Verkehr mit Nachbarn und Be-
ſitzern aufnehmen, ſondern ſich ganz und gar in
eine gemütliche Häuslichkeit einſpinnen; auch der Haus-
halt ſollte eingeſchränkt werden und auf die immerhin
mit Aufregungen verknüpften Spekulationen, die Leo-
nard mit Fridas Geld vornahm, wollte ſich Stephan
fortan auch nicht mehr einlaſfen.

Marianne hörte daß Untexhandlungen wegen An-
kaufs eines Bergwerks ſchweblen. Ihr Gatte hatte
zuerſt nichts davon wiſſen wollen; da Fridas Onfel
aber nicht aufhörte, ihn an ſeine heilige Pflicht mit
dem Pfunde zu wuchern“, zu mahnen, ihm vor-
zuſtellen, daß er dem Kinde mit ſo geringer Mühe eine
glänzende Zukunft ſichere, ſo ſchien Stephan dem An-
erbieten endlich näher getreten zu ſein. Häufig fuhren
ſie in der letzten Zeit nach dem Fernigenthal, wo ſich
das in Rede ſtehende Bleibergwerk befand. Auch
Marianne ließ ſich einmal überreden, mitzukommen!
Sie bereute es hernach aber ſehr, denn unterwegs war
von nichts anderem als von Geſchaͤften die Rede.

Aeußerlich gewöhnte ſich Marianne nun eine ge-
wiſſe Kühle und Zuxückhaltung an. Sie fühlte fich
von ihrem Manne nicht verſtanden, und ſie wolite ihm
nicht zeigen, wie unſaͤglich ſie litt. Aengſtlich verbarg
ſie vor ihm ihre Thränen. Sie bemühte ſich, nach
wie vor freundlich gegen ihn zu ſein, aber ihre Zärt-
lichkeit erloſch mehr und mehr! Auch ertapple fie ſich
ſelbſt darguf, daß ſie unangenehm berührt war, wenn


erſchien ihr wie eine Untreue. Wie kam es, daß er
ſich ſo harmlos dem Kinde widmen konnte, deſſen Ab-
neigung gegen ſie er doch kannte? Hatte er den Ver-
ſuch, auf die irregeleitete Kleine einzuwirken, ganz auf-
gegeben? Sollte es denn immer, immer ſo bleiben?!

In ihrer herzlähmenden Bangigkeit war ſie oft nahe


ſchreiben, um ſich ihr ganz und gar anzuvertrauen.


Schritt zurücd. Die Eltern hatten ihr ja mit ſo ernſten,
goldenen Worten ihre ſchweren Pflichten — namentlich
an dem Stiefkind, das ſie, ſelbſt noch ſo jung, ſo
lehensunkundig, erziehen und bemuttern follte — vor-
gehalten. Mit einem ſonnigen Lächeln hatte ſie damals
alle Bedenken, alle Ermahnungen beantwortet: ſie liebte
den großen, guten, einzigen Mann ja von ganzem
Herzen!

Liebte ſie ihn wirklich? Ach, ihr Herz war
ſo wund ſo leer, ſo kalt; ſie kannte ſich felbft nicht


traurig anſah, wax's ihr, als ſchreie es in ihr auf,
als treihe eine geheimnisvolle Macht ſie an ſeine Bruft,
damit ſie ſich dort ausweine, ihn umklammere und ihn


umgab, anflehe. .

Aber dann brauchte nur Frida, die feit der Ent-
laſſung des Fräuleins Berton hauptfächlich auf ihre
Großmutter angewieſen war, draußen im Garten an
dem Fenſter vorüberzukommen, die kalte Stimme von
Stephans Mutter oder von dem unermüdlichen Be-
ſucher Leonard zu ertönen, um die Regung der Zaͤrt-
lichkeit ſofort im Keim zu erſticken. . :

Freudlos, verkümmert, melancholiſch lebte fie dahin.

Da ward ſie zufaͤllig einmal Zeuge eines Geſpraͤchs
zwiſchen Stephan und ſeinem Schwager, das ſie zuerſt
mit Groll und tiefem Gram erfüllte, ſie dann aber
mit neuer Hoffnung belebte.

Huhert Leonard, der ſich ihr gegenüber immer ſo
ritterlich und taktvoll zu benehnien wuͤßte, der niemals
auch nur mit einem einzigen Wort in ihrer Gegenwaͤrt
an ſeine Schweſter zu erinnern gewagt hätte, ſprach,



da er Marianne abweſend glaubte, über die Verſtorbene
in einem Ton, der annehmen ließ, daß es ihm darauf
ankam, Stephans Unzufriedenheit mit ſeiner jetzigen
Lage noch zu verſchärfen.

Marianne hatte eine ſo niedrige Geſinnung bei
dem eleganten Lebemanne nicht vorausgeſctzt; es war


milder, leidender Art/ ſeine Bemerkungen zurückwies.

Es war vom Alpinismus die Rede geweſen. Hubert
hatte daxan erinnert, eine wie leidenſchaftliche Berg-
ſteigexin die Verſtorbene, wie bewundernswert ihr Mut,
ihre Energie, ihre Kühnheit und Geiſtesgegenwaͤrt auch
in den ſchwierigſten Momenten gewefen fei.-

Ich verlange das ja nicht von jeder Durchſchnitts-
frau,“ knüpfte er daran an, läſſig feine Zigarette rau-
chend, „denn Lucie mar eine gaͤnz ideale Ausnahme-
natur in jeder Beziehung, aber wo die Schwäche und
Zimperlichkeit der Weiber zur Feigheit ausartet, da
habe ich doch nur das Gefühl des Mitleids oder der
Verachtung. “

Die wider ihren Willen zur Zeugin des Geſprächs
gemachte Frau fuhr ſchreckhaͤft zujammen. Die em:
pörende Unterſchiebung von Feigheit galt ihr, das
wußte ſie ſofort. Angſtvoll ſpaͤhte ihr Blick nach
Stephans Miene und ſſie ſah, wie ſchwer ihr SGatte
unter den häßlichen Worten litt. Cr wollte die Ver-
dächtigung Huberts nicht auf ſeine zweite Frau beziehen,
erwiderte vielmehr nur ganz 4 im allgemeinen,
daß eben nicht jedes weibliche Weſen einen ſo durch
Sport geſtählten Körper beſitzen könne! Andere Lebens-
bedingungen, mehr geiſtige oDer häusliche Beſchäftigung
als wie turneriſche Ausbildung und gar eine zarte,
ſchwächliche Konſtitution ſprächen da mit; es ſei alio
übertrieben, gleich von Feigheit zu ſprechen.

In den nächſten Tagen ging Marianne dieſe Unter-
redung immerzu im Kopf herum. Sie ſchwankte zwiſchen
den Empfindungen der Bitterkeit und der Scham. So
oft Stephan ſie anſah, ſtieg ihr das Blut in die
Schläfen. Dachte er nun daran, daß andere ſie für
feig hielten? So fragte ſie ſich. Und gab es einen
Winkel ſeines Herzens, in deni er das niederſchmet-
ternde Urteil Leonards billigte? —

Aus allerlei Andeutungen und Erzählungen hatte
ſie im Lauf der Zeit ſich ein ziemlich klares Bild von
Frau Lucie zurechkgemacht. Daß ſie ſchön gewefen war,
zeigten ihre Bilder; ſie hatte Geſchmaͤck beſeſſen, aber
jie mar auch namenlos verwöhnt und kapriziös gewefen.
Ehrgeiz und Egoismus waren die hervoͤrſtechendſten
Charakterzüge von ihr geweſen; Herz und Gemüt hatte
ſie wohl kaum beſeſſen. Aber in dem einen Punkt
mußte man ſie allerdings rückhaltlos bewundern:. in
ihrem perſönlichen Mut.

Nie hätte dieſe Frau Stephans Herz ſo ganz und
gar erobert und in Feſſeln geſchlagen, wenn fie ihm
nicht darin ſo gewaͤltig imponiert haͤtte.

Wie wenn Frau Marianne nun verſuchte, gleich
dieſer Frau Lucie dem Gatten ein tapferer Wander-
famerad zu werden? Freilich: jene war geſund kernig-
abgehärtet und geübt, ein Kind der Berge gewefen;
ſie dagegen ſtammte aus dem Flachland, war zart und
ſchwächlich.

Aber ſchließlich ſah er dann doch ihren Willen, ihm
etwas zu ſein, und das mußte ſie einander näher
bringen. Denn wie ſie jetzt nebeneinander hinlebten,
das war ja zu troſtlos und jammervoll. Vielleicht gab
ihnen die Einſamkeit da droben auf den furchtbaren
Bergen endlich Muße, ſich einander wieder zu widmen,
wie in der kurzen Brautzeit, die entſetzensboͤlle Kluft,
die ſich zwiſchen ihnen auͤfgethan, zu überbrücken.

Wenn ſie nur nicht ſtets das Grauen angepackt
hätte, ſo oft ſie zu den unheimlichen Schneeriefen
emporblidte!

„Stephan,“ ſagte ſie ſchüchtern eines Abends, al8
er ſich Steigeiſen, Seil, Gebitgsſtock und Ruckſack für
eine größere Tour zurechtlegte, die am anderen Morgen
angetreten werden ſollte „willjt du mich nicht einmal
auf die Berge mitnehmen?“

Er wandte ſich überraſcht nach ihr um. Faſt war
es ihm, als habe er ſich verhört.

„Du willſt mich begleiten? Aber bisher haſt du
mir doch noch kein Wort davon geſagt, daß du Luft
dazu hätteſt! Ich glaubte, du fürchteteſt dich vor dem
Hochgebirge?“

Der Vorwurf der Furcht, der ſie an Leonards ver-
ächtliche Bemerkungen erinnerte, trieb ihr das Blut


fenne es ja noch nicht. Es wäre aber doch möglich,
daß ich dieſen Wanderungen gleichfalls Geſchmack ab-
gewänne.“

Er ward nun lebhafter und viel herzlicher als in
der letzten Zeit. „Marianne, es würde mich ungemein
freuten, “ ſagte er in einer gewiſſen Erregung, „Ichon
Deshalb, weil du damit beweifen mürdvelt ...“ Cr
brach vor ihrem forſchenden Blick faſt erſchrocken ab,
ſchüttelte den Kopf und ſetzte dann wieder ein: „Du
mußt mich nicht für einen Bergfer halten, dem es nur
auf die Ueberwindung möglichſt ſchwieriger Hochgebirgs-
ſtellen ankommt. Was ich da droben ſuche, iſt Stimmung,



Sammlung, Andacht. Ach, Marianne, wenn du“deine
Scheu wirklich überwinden wollteſt, wenn du nur ein-
mal die Größe Goͤttes ſeine Allmacht in der Natur
da droben bewundern koͤnnteſt, e& würde dich gleich mir
immer und immer wieder hinauf zum ewigen Schnee
ziehen. Und du würdeſt mich wohl auch in auderem ver-
ſtehen lernen, wenn du dieſe meinẽ Schwärmerei teilteſt!“
„Eben deshalb will ich's verſuchen!“ ſagte ſie mit
einem tiefen Atemzug. O
Als Stephan, in ſeiner freudigen Erregung über
den Entſchluß ſeiner Frau, ſofort feiner Mutter und
dann auch Leonard, der ſich noch ſpät am Abend in
Geſchäften bei ihm einſtellte, Mitteilung machte, ſtieß
er auf ungläubige Mienen. Beim gemeinſam ein:
genommenen Thee hatte Marianne denn auch allerlei,
wie es den Anſchein erwecken ſollte wohlwollende Rat-
ſchläge anzuhören; in Wahrheit liefen ſie aber alle nur
darauf hinaus, ihr vorzuhalten, daß ſie als unerfahrener
Laie die Sicherheit und Kühnheit eines geübten Hoch-
touriſten, wie es zum Beiſpiel Frau Lueie geweſen
war, ſchmerzlich vermiſſen laſſen und darum ihrem
Gatten unter Umſtänden nur hinderlich ſein werde.
All das exweckte in ihr eine ganz neue Art von
Ehrgeiz die ihr vorher fremd gewejen war. „Waz
ein Laie überhaupt zu leiſten vermag, darf Stephan
ruhig von mir fordern!“ fagte ſie ſchließlich, faſt mit
einigem Groll darüber, daß die beiden ihrem Mann
vorſchlugen, zunächſt nur eine ganz kleine und un-
gefährliche Tour mit ihr zu unternehmen.
„Aber die körperliche Leiſtungsfähigkeit iſt es nicht


dige,“ verſetzte Leonard da in etwas überlegenem Tone,
das Haupterfordernis iſt — Mut.“

Nun ſah Marianne ihrem verkappten Feinde flam-

mend ins Antlitz. „Eben den gedenke ich zu beweiſen!“
ſagte ſie erregt.
. Da man am anderen Tage früh aufſtehen mußte,
zog ſich Marianne beizeiten zurück. Sie beſaß zu-
fällig ein von derbem Loden angefertigtes Refornikleid,
das ſie ſich für die Tour zurechtlegte. Ein paar feſte
Schuhe von ihr, die gut paßten, ließ Stephan durch
den Hausdiener benageln. Gebirgsſtock, Schneebrille
und dergleichen ward Marianne durch ihre Schwieger-
mutter verſchafft. Sie ahnte, daß die Gegenſtände aus
dem Beſitz von Frau Lucie ſtammten, waͤgte aber nicht
zu fragen, um ihre ungewiſſe Vermutung nicht be-
ſtätigt zu hören Denn in dieſem Falle wäre es ihr
unmöglich geweſen, die Sachen zu berühren.

Sie ſchlief ſehr unruhig, träumte viel und waͤchte
mit wüſtem Kopf auf, als ihr Gatte ſie noch vor
Morgengrauen weckte.

Schwer fiel ihr aufs Herz, welch ungewiſſe, grau-
ſame Aufgabe ihr bevorſtand. Sie ließ ſich aber nichts
von ihrer Befangenheit merken, kleidete ſich vielmehr


ihr gut ſitzenden kurzen Kleid/ das in ſchmiegſamen
Falten über die Pumphoſen fiel und gerade nöch den
oberen Teil der Gamaſchen bedeckte, auf ihren ſchwer-
henagelten Schuhen ins Speiſezimmer eintrat, freute
ſich Stephan herzlich über ihre Entſchloſſenheit und
Munterkeit. Beim Lampenſchein nahm man daͤs Früh-
ſtück ein. Marianne bediente ſelbſt; ſie hatte geftern
abend angeordnet, daß das Geſinde nicht aufzuſtehen
brauche, nur alles Erforderliche zurechtlegen und auch


„Will deine Mutter denn mit uns frühſtücken?“
fragte ſie verwundert, als ſie mit der Kaffeekanne aus
der Küche kam und ein drittes Gedeck auf dem Tiſch
— ꝛ

„Nein, Mutter nicht, aber Hubert!“ antwortete
ihr Gatte. „Es lohnte naͤtürlich nicht, daß er erſt heimz: -
fuhr, Sein Wagen iſt hier geblieben; wir werden ihn
nachher bis St. Georges benutzen. Hubert felbſt wild
ſofort erſcheinen, Ich war ſoeben bei ihm, um ihn
mit den erforderlichen Requiſiten auszurüften.“

„Herr Legnard wird uns begleiten?“ fragte
Marianne erbleichend.

„Aber gewiß, liebſte Marianne. Schon deiner
Sicherheit halber.“ *
Foyſchend ſah ſie ihn an. „Meiner Sicherheit


„Natürlich brauchſt du zwei Führer auf einer ſolchen
Tour,“ belehrte ſie ihr Gatte. „Wir müſſen uns an
ſchwierigen Stellen anſeilen, verſtehſt du, um erforder:
lichenfalls die Gefahr eines Abſturzes zu vermeiden.
Es hat im Frühjahr wieder viele Veraͤnderungen in
den Formationen gegeben; gewaltige Schneenengen
ſind weggetaut, Gletſcherſpalten, Schneeſpaͤlten haben
ſich gufgethan. Da heißt es vorſichtig fein.“

Marianne war ſehr enttäuſcht. Sie hatte ſo feſt
darauf gehofft, gerade allein mit ihrem Gaͤtten die
Tour zu unternehmen. Und wenn ſchon aus äußeren
Gründen die Begleitung durch einen Dritten notwendig
war, ſo wäre ihr jeder beliebige Fremde ſympathiſcher
geweſen als wie der Bruder von Frau Lueie.

Sie hatte ſich aber im Verlauf der in der Nacht


wieder zu ſolchen Verſtimmungen zwiſchen ſich und




 
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