2
„Sind Sie etwa selbst aus Schwarken?"
„O nein! -— Was, Fips?" Sie bückte sich und
streichelte den Hund.
„Wo sind Sie denn zu Hause?"
Das Gespräch begann ihn zu amüsieren. Nur-
vermißte er die bäurische Sprache an diesem Natur-
kind.
Sie wies seitwärts, wo unter dem klaren Hori-
zont eine Rauchsäule langsam emporstieg. „Das
Häuschen da! Ein kleines Ding, aber lieb, sehr-
lieb. Ein bißchen wächst ja auch im Garten, aber
viel ist's nicht. Den Kohl frißt die Ziege fast ganz
allein. Wir haben sie früher manchmal mit hierher-
genommen — nicht wahr, Fips? Aber sie ist bock-
beinig."
„Also — da drüben," sagte er, die ganz beson-
ders reizende Form ihres Mundes betrachtend, wel-
cher selbst jetzt, wo er geöffnet war, nichts von seiner
Schönheit verlor. „Und dies hier betrachten Sie
wohl als Ihren Privatpark?"
„Als was?" fragte sie harmlos.
Jetzt lachte er. „Na, ich meine so — so als
Ziergarten. An Blumen fehlt's ja hier nicht. Und
Ihr Kavalier ist Ihnen auch sicher." Er wies aus
den schwarzen Pudel, der seine Nase liebevoll an
dem blau und rot gestreiften Kattunkleid rieb. „Darf
man übrigens fragen, wie alt Sie sind?"
„Sechzehn— Laß doch das dumme Gefchnupper,
Fips! -— Vorgestern -—"
Ihre dunkelblauen Augen hafteten wie gebannt
an seinen Zügen. Eine solche Fülle von Bewun-
derung entstrahlte ihnen, daß er nur mit Mühe
einen zweiten Heiterkeitsausbruch unterdrückte.
„Da darf man wohl noch nachträglich gratu-
lieren?"
Sie nickte.
Er streckte die Hand aus, eine weiße, gepflegte
Männerhand. Ihre kleine braune Rechte drückte
sich scheu hinein.
Die Berührung benahm ihr fast den Atem.
„Sie müssen sich aber auch bedanken," sagte er
scherzhaft.
Das Blut stieg ihr wieder glühend in die Wangen.
„Danke schön!"
Er dachte, daß es eine hübsche Farbenstudie geben
möchte — diese blonde Dorfschöne unter dem schwar-
zen Kiefernbaum, auf roter Heide, über welche der
Himmel strahlendblau sich wölbte.
„Wenn ich noch nach Schwarken will, muß aber
nun geschieden sein." Er ließ ihre Rechte fallen.
„Ihren Namen müssen Sie mir noch sagen."
Sie vermochte vor Beklommenheit nur leise zu
flüstern: „Mieze —"
„Also, Fräulein Mieze — bleiben Sie immer
so hübsch wie jetzt, kleine Heidefee! Und lassen Sie
die bockbeinige Ziege nicht allen Kohl aufknabbern!
-— Adieu, Fips — reibe keine Löcher mit deiner
Nase!"
Er nickte lachend, sah noch einmal zurück und
ging dann rasch in der Richtung nach den Ver-
schwimmenden Häusern vorwärts.
Sie stand unbeweglich wie die Kiefer und blickte
ihm nach. Die ganze Heide schrumpfte vor ihren
Augen zusammen, sie sah nur die Helle Gestalt, die
ihr überirdisch herrlich erschien. Bald umspann sie
die Ferne mit rotem Dunstgewebe, als schwämme
sie auf Purpurwellen ins Unendliche. Und jetzt
verkürzte sich das Bild — Röte überall und da-
zwischen ein weißes Pünktchen. Und dann — nichts
mehr.
Das Märchen war zu Ende.
Da hockte sie sich ins Heidekraut nieder, umfaßte
Fips, daß er zu heulen begann, und lachte — ein
lautes, glückliches Lachen, wie ein Kind, das über-
reich bedacht ist unterm Christbaum und nicht weiß,
was tun mit all den Schätzen.
Sie sprang auf, preßte dem Pudel das Buch
ins Maul, hing den ehrwürdigen Hut über den Arm
und ging langsam in der Richtung der voller stei-
genden Rauchsäule heimwärts.
Das Häuschen stand schon im Wolkenbrand, aus
allen Fenstern lohte die Glut. Zwei Fenster rechts,
zwei Fenster links, die Haustür in der Mitte — so
stand es da, schmal und niedrig, sauber gestrichen,
über dem Eingang ein festgenageltes Hufeisen.
Ein holpriger Fahrweg führte an dem Staketen-
zaun vorüber, welcher den Vorgarten einschloß.
Wenn mehr in diesem Garten blühte als wohl-
riechende Wicke, einige verkümmerte Rosensträucher
und etwas Goldlack zwischen roten Mohnköpfen,
dann war's ein reicher Sommer gewesen. In der
Ecke stand ein alter Holunderbusch. Der gabSchatten.
Mit einem Eifer, daß sie über Fips hinweg fast
in die Stube fiel, riß das junge Mädchen die Zimmer-?
tür auf. „Tante — Tante! Was ich gesehen habe!"
Neben einer alten Dame, welche strickend im
Sofa saß, erhob sich jemand und ging mit aus-
gestreckten Händen der Eintretenden entgegen.
— —n Va5 Luch sm- Mle-
„Guten Tag, Fräulein Mieze! Wir kennen uns
wohl nicht mehr?"
Sie war so im Schuß, daß sie Gegenwärtiges
und Vergangenes durcheinanderwarf. „Herr Willi
— wahrhaftig! — Taute, höre nur, ich muß dir
erzählen — da komme ich wenigstens nicht zu spät,
Herr Willi! — Du kannst dir gar nicht denken,
Tante — solch Gesicht! Gott, war der schön! —>
Haben Sie denn jetzt Ferien, Herr Willi?"
„Ich habe meiu Assessorexamen gemacht und
will nun sehen, was weiter aus mir wird. Von
welchem Schönheitswunder sprechen Sie denn?"
„Du bist doch ein schreckliches Mädel!" sagte das
alte Fräulein lachend.
Mieze stürzte zum Sofa und küßte das alte
Fräulein stürmisch. „Sag mal, Taute, wenn du
mich nie gesehen hättest, würdest du mich auch für-
hübsch halten?"
„Rappelt's? Wer soll denn dich für hübsch
halten, kleines dummes Ding? Sieh lieber zu,
daß Herr Willi euren Schluck Milch bekommt."
„Ich danke, Fräulein Helling. Aber ich möchte
wohl wissen, wie Fräulein Mieze zu dieser Frage
kommt!"
„Das hängt man nicht an die große Glocke,"
rief sie lachend. „Wenn ich's nicht bin, schadet's
auch nichts. Deshalb sind wir doch lustig — was,
Fips?"
Das alte Fräulein klapperte mit den Nadeln,
daß es eine Art hatte. „Setze jetzt die Kartoffeln
auf, gewaschen sind sie. Nachher pflücke frische
Petersilie. Sodmann soll die Ziege melken."
„Es wird nun Zeit für mich, zu gehen."
„Sie bleiben doch ein Weilchen, lieber Willi, bei
Ihrem guten Vater? Kommen Sie recht oft! —
Na, bist du noch nicht fort, Mieze?"
„Ich will doch erst Adieu sagen."
Assessor Seiler nahm ihre Hand fest in die seine.
„Wenn ich wüßte, daß meine Besuche Fräulein
Mieze gleichfalls nicht unangenehm sind —"
„Nanu? Warum denn?"
Sie sah ihn so erstaunt an, daß er sich über
sich selbst ärgerte. Er grüßte hastig und ging aus
der Tür. —
Bei Tisch, als die dampfenden Kartoffeln neben
einem Stückchen frischer Butter standen, wozu für
jeden ein Glas Ziegenmilch kam, gab Mieze zu-
nächst ein anschauliches Bild ihrer Begegnung mit
dem Fremden.
„Schließlich wird er wohl auch nur einen Kopf
und zwei Beine gehabt haben, mögen sie eingewickelt
gewesen sein, in was sie wollen," lachte das alte
Fräulein. „Dir hat er jedenfalls die Närrin an
der Nasenspitze angesehen. Iß aber in deiner Ver-
zückung nicht alles auf! Fips möchte auch noch
etwas haben."
Mieze hatte allerdings bei zunehmendem Eifer
reichlich zugelangt. Plötzlich sprang sie auf, faßte
den erwartungsvollen Pudel an den Vorderbeinen
und tanzte mit ihm im Zimmer herum.
„Bei dir ist entschieden eine Schraube losge-
gangen! Laß doch den Hund jetzt fressen, und putz
mir nachher beim Abwaschen kein Geschirr entzwei —
verstanden? Ich revidiere jetzt."
Bei diesen Worten stülpte das alte Fräulein auf
ihre Haube eine schwarze Herrenmütze, die wie ein
Turban aufrecht stand und die Ohren vor Zugwind
schützte. In die Rechte nahm sie ihren gewaltigen
Schlüsselbund, in die Linke einen Handstock, der mit
einer höchst unangenehmen Eisenspitze versehen war.
Also ausgerüstet ging sie, Boden und Keller,
Stall und Garten abzusuchen.
Im Hofe trat ihr das Faktotum Sodmann ent-
gegen. Er war der einzige dienstbare Geist des
Hauses. Seine Fähigkeiten und Leistungen waren
erstaunlich. Als Kindermädchen von unvergleich-
licher Treue und Geduld, als Gärtner und Melker
hervorragend, heilte er zersprungenes Geschirr wie
der beste Rastelbinder mit Draht und Stift. Kein
Schuhmacher in den nächsten Dörfern verstand so
gut, überlebtes Schuhzeug zu kräftigen, kein Maurer
so schnell zu tünchen. Einkäufe in den umliegenden
Gehöften und dörflichen Kramläden schloß er er-
staunlich billig ab und scheuerte und wusch trotz der
besten Putzfrau.
Diese männliche Perle ging jetzt mit dem alten
Fräulein dienstwillig treppauf, treppab, aber immer
respektvoll einen Schritt hinter ihr.
Im Ziegenstall, wo die Kohlvertilgerin behag-
lich wiederkäuend Schlafvorbereitungen traf, hüstelte
Sodmann.
Dies war das Zeichen, daß er etwas zu sagen
wünschte, was außerhalb seiner Amtsverrichtungen
lag.
Der schwarze Turban machte kehrt. „Was ist
los?"
„Gnädiges Fräulein haben —"
„Ich will von -gnädig' nichts hören. Dies ist
-heft 1
nun das letzte Mal, daß ich Ihn daran erinnere.
Kommt Er mir noch einmal damit, dann drehe ich
Ihm den Rücken — verstanden? Das ist längst
vorbei! — Na also, Sodmann, was will Er?"
„Nur fragen, ob das — Fräulein wohl bemerkt
hat — ich habe im Dorf drüben gehört, daß —"
„Soll ich den Schraubenzieher holen, damit Er's
herauskriegt?"
„Daß der Pastorssohn unserer Mieze nachgeht."
Das Fräulein stemmte ihre bewaffneten Hände
in die Seite und sah sehr energisch drein. „Klatsch
Quatsch! — Was noch?"
„Nichts mehr."
„Na, dann will ich Ihm noch etwas sagen, das
soll er den Schwatzmäulern drüben und sonstwo
zum besten geben. Was in meinem Hause passiert,
das geht keinen Menschen was an — verstanden?
Damit meine ich nicht Ihn, Sodmann, sondern die
Klatschbasen beiderlei Geschlechts drüben und sonst-
wo. Wir gehen in Schwarken zur Kirche, die selige
Frau Pastorin war mir lieb und wert, der Herr-
Pastor ist mein Freund, seinen Sohn habe ich auf-
wachsen sehen — das ist das Ganze. Unsere Mieze
ist ein Kind, das von der Welt und vom Leben just
so viel weiß, wie die Ziege oder meinetwegen wie
Fips, der aber doch ein zu geriebener Bursche ist.
Und damit basta! — Vorläufig hat Herr Willi noch
keinen Groschen Gehalt. Soll ich Ihm noch mehr
sagen, Sodmann? Oder genügt das?"
„Es genügt, gnä — Fräulein Helling."
„Dann stoße Er mal hier unters Stroh, ob
jemand darunter liegt."
Nach ein paar wuchtigen Stößen, die jedem
Unbefugten sicher das Lebenslicht ausgeblasen hätten,
war die allabendliche Visitation beendet.
Fräulein Helling ging ins Haus zurück und ver-
barrikadierte es mittels Läden und Eisenstangen.
Sodmann schlich sich etwas geknickt in die Küche
und gab ihr einen fast überirdischen Glanz an
Sauberkeit. —
Inzwischen hatte auch Mieze ihr Werk vollendet.
Jeder Topf stand an seinem Platze.
Draußen war der Mond in ruhiger Pracht, wie
eine riesige Leuchtkugel, über der Heide aufgegangen,
wo jetzt, wie sachkundige Leute erzählen, Elfen und
Wichtelmännchen tanzten und Tau aus Blumen-
kelchen tranken. Auf silbernen Spinnfädenbrücken
schaukelte sie der Nachtwind, Goldkäfer spannten
sich vor ihren Wagen, der schönste Schmetterling
aber trug die Elfenkönigin auf seinen Flügeln.
Mieze sah das alles durch die geschlossenen und
verrammelten Fensterläden, während Fräulein Hel-
ling mit eindringlicher Stimme den Abendsegen las
aus einer alten Hauspostille, die, wie sie sagte,
noch Kern in sich trug.
Das war Schluß des Tages.
Das Hinterstübchen nahm Tante, Nichte und
Fips auf.
Mieze träumte in dieser Nacht, sie wäre die kleine
Seejungfer, und der schöne Prinz im weißen Flanell-
anzug mit gelben Schuhen läge ertrunken im roten
Heidekraut.
Zweites Kapitel.
Der Fremde, dem das Abenteuer unter dem
Kiefernbaume schon nach den ersten zehn Minuten
aus dem Gedächtnis geschwunden, war rüstig in
der bezeichneten Richtung quer durch die Heide ge-
gangen, das starre Kraut verwünschend, welches
seinen Widerstand bei jedem Schritt geltend machte.
Endlich kam eine schwache Grasnarbe zum Vor-
schein, auf welcher ein paar magere Kühe sich ab-
mühten, Futter zu finden, dann lag das Dorf hin-
gestreckt im Abendsonnenschein vor ihm. Die Kirche
erhöht, das Pfarrhaus abgesondert und friedlich
unter schwerem Dach.
Unter alten Lindenbäumen stand der Fremde
still und suchte eine Visitenkarte hervor, die er dem
herbeieilenden Mädchen übergab.
„Ist der Herr Pastor zu Hause?"
Der dienende Geist, nur an Bauern gewöhnt,
betrachtete diese ungewohnte Erscheinung zweifelnd.
„Ja — er ist da —"
„Also, bitte! Ich warte."
Eine Seitentür im Hausgang tat sich auf.
„Herr Pastor Seiler?"
„Zu dienen. Aber bitte doch sehr, näherzutreten.
Ich bin ganz überrascht —"
Der junge Mann trat in die Studierstube, deren
tabakvermischte Luft ihm zunächst auf die Nerven
fiel. „Ich muß um Verzeihung bitten wegen meines
Überfalls."
„Aber wieso denn? Ich habe ja Zeit." Die
würdige, etwas gebeugte Gestalt des Geistlichen,
dessen Antlitz von des Lebens Sorgen und Mühen
sprach, trat ihm einen Schritt näher. „Seien Sie
mir herzlich willkommen, Herr v. Mersbach. Es
„Sind Sie etwa selbst aus Schwarken?"
„O nein! -— Was, Fips?" Sie bückte sich und
streichelte den Hund.
„Wo sind Sie denn zu Hause?"
Das Gespräch begann ihn zu amüsieren. Nur-
vermißte er die bäurische Sprache an diesem Natur-
kind.
Sie wies seitwärts, wo unter dem klaren Hori-
zont eine Rauchsäule langsam emporstieg. „Das
Häuschen da! Ein kleines Ding, aber lieb, sehr-
lieb. Ein bißchen wächst ja auch im Garten, aber
viel ist's nicht. Den Kohl frißt die Ziege fast ganz
allein. Wir haben sie früher manchmal mit hierher-
genommen — nicht wahr, Fips? Aber sie ist bock-
beinig."
„Also — da drüben," sagte er, die ganz beson-
ders reizende Form ihres Mundes betrachtend, wel-
cher selbst jetzt, wo er geöffnet war, nichts von seiner
Schönheit verlor. „Und dies hier betrachten Sie
wohl als Ihren Privatpark?"
„Als was?" fragte sie harmlos.
Jetzt lachte er. „Na, ich meine so — so als
Ziergarten. An Blumen fehlt's ja hier nicht. Und
Ihr Kavalier ist Ihnen auch sicher." Er wies aus
den schwarzen Pudel, der seine Nase liebevoll an
dem blau und rot gestreiften Kattunkleid rieb. „Darf
man übrigens fragen, wie alt Sie sind?"
„Sechzehn— Laß doch das dumme Gefchnupper,
Fips! -— Vorgestern -—"
Ihre dunkelblauen Augen hafteten wie gebannt
an seinen Zügen. Eine solche Fülle von Bewun-
derung entstrahlte ihnen, daß er nur mit Mühe
einen zweiten Heiterkeitsausbruch unterdrückte.
„Da darf man wohl noch nachträglich gratu-
lieren?"
Sie nickte.
Er streckte die Hand aus, eine weiße, gepflegte
Männerhand. Ihre kleine braune Rechte drückte
sich scheu hinein.
Die Berührung benahm ihr fast den Atem.
„Sie müssen sich aber auch bedanken," sagte er
scherzhaft.
Das Blut stieg ihr wieder glühend in die Wangen.
„Danke schön!"
Er dachte, daß es eine hübsche Farbenstudie geben
möchte — diese blonde Dorfschöne unter dem schwar-
zen Kiefernbaum, auf roter Heide, über welche der
Himmel strahlendblau sich wölbte.
„Wenn ich noch nach Schwarken will, muß aber
nun geschieden sein." Er ließ ihre Rechte fallen.
„Ihren Namen müssen Sie mir noch sagen."
Sie vermochte vor Beklommenheit nur leise zu
flüstern: „Mieze —"
„Also, Fräulein Mieze — bleiben Sie immer
so hübsch wie jetzt, kleine Heidefee! Und lassen Sie
die bockbeinige Ziege nicht allen Kohl aufknabbern!
-— Adieu, Fips — reibe keine Löcher mit deiner
Nase!"
Er nickte lachend, sah noch einmal zurück und
ging dann rasch in der Richtung nach den Ver-
schwimmenden Häusern vorwärts.
Sie stand unbeweglich wie die Kiefer und blickte
ihm nach. Die ganze Heide schrumpfte vor ihren
Augen zusammen, sie sah nur die Helle Gestalt, die
ihr überirdisch herrlich erschien. Bald umspann sie
die Ferne mit rotem Dunstgewebe, als schwämme
sie auf Purpurwellen ins Unendliche. Und jetzt
verkürzte sich das Bild — Röte überall und da-
zwischen ein weißes Pünktchen. Und dann — nichts
mehr.
Das Märchen war zu Ende.
Da hockte sie sich ins Heidekraut nieder, umfaßte
Fips, daß er zu heulen begann, und lachte — ein
lautes, glückliches Lachen, wie ein Kind, das über-
reich bedacht ist unterm Christbaum und nicht weiß,
was tun mit all den Schätzen.
Sie sprang auf, preßte dem Pudel das Buch
ins Maul, hing den ehrwürdigen Hut über den Arm
und ging langsam in der Richtung der voller stei-
genden Rauchsäule heimwärts.
Das Häuschen stand schon im Wolkenbrand, aus
allen Fenstern lohte die Glut. Zwei Fenster rechts,
zwei Fenster links, die Haustür in der Mitte — so
stand es da, schmal und niedrig, sauber gestrichen,
über dem Eingang ein festgenageltes Hufeisen.
Ein holpriger Fahrweg führte an dem Staketen-
zaun vorüber, welcher den Vorgarten einschloß.
Wenn mehr in diesem Garten blühte als wohl-
riechende Wicke, einige verkümmerte Rosensträucher
und etwas Goldlack zwischen roten Mohnköpfen,
dann war's ein reicher Sommer gewesen. In der
Ecke stand ein alter Holunderbusch. Der gabSchatten.
Mit einem Eifer, daß sie über Fips hinweg fast
in die Stube fiel, riß das junge Mädchen die Zimmer-?
tür auf. „Tante — Tante! Was ich gesehen habe!"
Neben einer alten Dame, welche strickend im
Sofa saß, erhob sich jemand und ging mit aus-
gestreckten Händen der Eintretenden entgegen.
— —n Va5 Luch sm- Mle-
„Guten Tag, Fräulein Mieze! Wir kennen uns
wohl nicht mehr?"
Sie war so im Schuß, daß sie Gegenwärtiges
und Vergangenes durcheinanderwarf. „Herr Willi
— wahrhaftig! — Taute, höre nur, ich muß dir
erzählen — da komme ich wenigstens nicht zu spät,
Herr Willi! — Du kannst dir gar nicht denken,
Tante — solch Gesicht! Gott, war der schön! —>
Haben Sie denn jetzt Ferien, Herr Willi?"
„Ich habe meiu Assessorexamen gemacht und
will nun sehen, was weiter aus mir wird. Von
welchem Schönheitswunder sprechen Sie denn?"
„Du bist doch ein schreckliches Mädel!" sagte das
alte Fräulein lachend.
Mieze stürzte zum Sofa und küßte das alte
Fräulein stürmisch. „Sag mal, Taute, wenn du
mich nie gesehen hättest, würdest du mich auch für-
hübsch halten?"
„Rappelt's? Wer soll denn dich für hübsch
halten, kleines dummes Ding? Sieh lieber zu,
daß Herr Willi euren Schluck Milch bekommt."
„Ich danke, Fräulein Helling. Aber ich möchte
wohl wissen, wie Fräulein Mieze zu dieser Frage
kommt!"
„Das hängt man nicht an die große Glocke,"
rief sie lachend. „Wenn ich's nicht bin, schadet's
auch nichts. Deshalb sind wir doch lustig — was,
Fips?"
Das alte Fräulein klapperte mit den Nadeln,
daß es eine Art hatte. „Setze jetzt die Kartoffeln
auf, gewaschen sind sie. Nachher pflücke frische
Petersilie. Sodmann soll die Ziege melken."
„Es wird nun Zeit für mich, zu gehen."
„Sie bleiben doch ein Weilchen, lieber Willi, bei
Ihrem guten Vater? Kommen Sie recht oft! —
Na, bist du noch nicht fort, Mieze?"
„Ich will doch erst Adieu sagen."
Assessor Seiler nahm ihre Hand fest in die seine.
„Wenn ich wüßte, daß meine Besuche Fräulein
Mieze gleichfalls nicht unangenehm sind —"
„Nanu? Warum denn?"
Sie sah ihn so erstaunt an, daß er sich über
sich selbst ärgerte. Er grüßte hastig und ging aus
der Tür. —
Bei Tisch, als die dampfenden Kartoffeln neben
einem Stückchen frischer Butter standen, wozu für
jeden ein Glas Ziegenmilch kam, gab Mieze zu-
nächst ein anschauliches Bild ihrer Begegnung mit
dem Fremden.
„Schließlich wird er wohl auch nur einen Kopf
und zwei Beine gehabt haben, mögen sie eingewickelt
gewesen sein, in was sie wollen," lachte das alte
Fräulein. „Dir hat er jedenfalls die Närrin an
der Nasenspitze angesehen. Iß aber in deiner Ver-
zückung nicht alles auf! Fips möchte auch noch
etwas haben."
Mieze hatte allerdings bei zunehmendem Eifer
reichlich zugelangt. Plötzlich sprang sie auf, faßte
den erwartungsvollen Pudel an den Vorderbeinen
und tanzte mit ihm im Zimmer herum.
„Bei dir ist entschieden eine Schraube losge-
gangen! Laß doch den Hund jetzt fressen, und putz
mir nachher beim Abwaschen kein Geschirr entzwei —
verstanden? Ich revidiere jetzt."
Bei diesen Worten stülpte das alte Fräulein auf
ihre Haube eine schwarze Herrenmütze, die wie ein
Turban aufrecht stand und die Ohren vor Zugwind
schützte. In die Rechte nahm sie ihren gewaltigen
Schlüsselbund, in die Linke einen Handstock, der mit
einer höchst unangenehmen Eisenspitze versehen war.
Also ausgerüstet ging sie, Boden und Keller,
Stall und Garten abzusuchen.
Im Hofe trat ihr das Faktotum Sodmann ent-
gegen. Er war der einzige dienstbare Geist des
Hauses. Seine Fähigkeiten und Leistungen waren
erstaunlich. Als Kindermädchen von unvergleich-
licher Treue und Geduld, als Gärtner und Melker
hervorragend, heilte er zersprungenes Geschirr wie
der beste Rastelbinder mit Draht und Stift. Kein
Schuhmacher in den nächsten Dörfern verstand so
gut, überlebtes Schuhzeug zu kräftigen, kein Maurer
so schnell zu tünchen. Einkäufe in den umliegenden
Gehöften und dörflichen Kramläden schloß er er-
staunlich billig ab und scheuerte und wusch trotz der
besten Putzfrau.
Diese männliche Perle ging jetzt mit dem alten
Fräulein dienstwillig treppauf, treppab, aber immer
respektvoll einen Schritt hinter ihr.
Im Ziegenstall, wo die Kohlvertilgerin behag-
lich wiederkäuend Schlafvorbereitungen traf, hüstelte
Sodmann.
Dies war das Zeichen, daß er etwas zu sagen
wünschte, was außerhalb seiner Amtsverrichtungen
lag.
Der schwarze Turban machte kehrt. „Was ist
los?"
„Gnädiges Fräulein haben —"
„Ich will von -gnädig' nichts hören. Dies ist
-heft 1
nun das letzte Mal, daß ich Ihn daran erinnere.
Kommt Er mir noch einmal damit, dann drehe ich
Ihm den Rücken — verstanden? Das ist längst
vorbei! — Na also, Sodmann, was will Er?"
„Nur fragen, ob das — Fräulein wohl bemerkt
hat — ich habe im Dorf drüben gehört, daß —"
„Soll ich den Schraubenzieher holen, damit Er's
herauskriegt?"
„Daß der Pastorssohn unserer Mieze nachgeht."
Das Fräulein stemmte ihre bewaffneten Hände
in die Seite und sah sehr energisch drein. „Klatsch
Quatsch! — Was noch?"
„Nichts mehr."
„Na, dann will ich Ihm noch etwas sagen, das
soll er den Schwatzmäulern drüben und sonstwo
zum besten geben. Was in meinem Hause passiert,
das geht keinen Menschen was an — verstanden?
Damit meine ich nicht Ihn, Sodmann, sondern die
Klatschbasen beiderlei Geschlechts drüben und sonst-
wo. Wir gehen in Schwarken zur Kirche, die selige
Frau Pastorin war mir lieb und wert, der Herr-
Pastor ist mein Freund, seinen Sohn habe ich auf-
wachsen sehen — das ist das Ganze. Unsere Mieze
ist ein Kind, das von der Welt und vom Leben just
so viel weiß, wie die Ziege oder meinetwegen wie
Fips, der aber doch ein zu geriebener Bursche ist.
Und damit basta! — Vorläufig hat Herr Willi noch
keinen Groschen Gehalt. Soll ich Ihm noch mehr
sagen, Sodmann? Oder genügt das?"
„Es genügt, gnä — Fräulein Helling."
„Dann stoße Er mal hier unters Stroh, ob
jemand darunter liegt."
Nach ein paar wuchtigen Stößen, die jedem
Unbefugten sicher das Lebenslicht ausgeblasen hätten,
war die allabendliche Visitation beendet.
Fräulein Helling ging ins Haus zurück und ver-
barrikadierte es mittels Läden und Eisenstangen.
Sodmann schlich sich etwas geknickt in die Küche
und gab ihr einen fast überirdischen Glanz an
Sauberkeit. —
Inzwischen hatte auch Mieze ihr Werk vollendet.
Jeder Topf stand an seinem Platze.
Draußen war der Mond in ruhiger Pracht, wie
eine riesige Leuchtkugel, über der Heide aufgegangen,
wo jetzt, wie sachkundige Leute erzählen, Elfen und
Wichtelmännchen tanzten und Tau aus Blumen-
kelchen tranken. Auf silbernen Spinnfädenbrücken
schaukelte sie der Nachtwind, Goldkäfer spannten
sich vor ihren Wagen, der schönste Schmetterling
aber trug die Elfenkönigin auf seinen Flügeln.
Mieze sah das alles durch die geschlossenen und
verrammelten Fensterläden, während Fräulein Hel-
ling mit eindringlicher Stimme den Abendsegen las
aus einer alten Hauspostille, die, wie sie sagte,
noch Kern in sich trug.
Das war Schluß des Tages.
Das Hinterstübchen nahm Tante, Nichte und
Fips auf.
Mieze träumte in dieser Nacht, sie wäre die kleine
Seejungfer, und der schöne Prinz im weißen Flanell-
anzug mit gelben Schuhen läge ertrunken im roten
Heidekraut.
Zweites Kapitel.
Der Fremde, dem das Abenteuer unter dem
Kiefernbaume schon nach den ersten zehn Minuten
aus dem Gedächtnis geschwunden, war rüstig in
der bezeichneten Richtung quer durch die Heide ge-
gangen, das starre Kraut verwünschend, welches
seinen Widerstand bei jedem Schritt geltend machte.
Endlich kam eine schwache Grasnarbe zum Vor-
schein, auf welcher ein paar magere Kühe sich ab-
mühten, Futter zu finden, dann lag das Dorf hin-
gestreckt im Abendsonnenschein vor ihm. Die Kirche
erhöht, das Pfarrhaus abgesondert und friedlich
unter schwerem Dach.
Unter alten Lindenbäumen stand der Fremde
still und suchte eine Visitenkarte hervor, die er dem
herbeieilenden Mädchen übergab.
„Ist der Herr Pastor zu Hause?"
Der dienende Geist, nur an Bauern gewöhnt,
betrachtete diese ungewohnte Erscheinung zweifelnd.
„Ja — er ist da —"
„Also, bitte! Ich warte."
Eine Seitentür im Hausgang tat sich auf.
„Herr Pastor Seiler?"
„Zu dienen. Aber bitte doch sehr, näherzutreten.
Ich bin ganz überrascht —"
Der junge Mann trat in die Studierstube, deren
tabakvermischte Luft ihm zunächst auf die Nerven
fiel. „Ich muß um Verzeihung bitten wegen meines
Überfalls."
„Aber wieso denn? Ich habe ja Zeit." Die
würdige, etwas gebeugte Gestalt des Geistlichen,
dessen Antlitz von des Lebens Sorgen und Mühen
sprach, trat ihm einen Schritt näher. „Seien Sie
mir herzlich willkommen, Herr v. Mersbach. Es