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ist mir eine ganz besondere Freude, ein Mitglied
Ihrer Familie wiederzusehen. Lange, lange ist's
her, seit ich Ihre ersten Gehversuche sah."
Mersbach verneigte sich höflich, obwohl ihn diese
Erinnerung kalt ließ.
„Darf ich bitten, Platz zu nehmen? Ich hörte
Ihren Wagen nicht —"
„Ich kam zu Fuß über Darkehmen und will
auch so zurückkehren. Die Gegend ist recht roman-
tisch hier."
„Das ist wahr — sie wird einem sehr lieb."
Wein und Selterwasser, Obst und Gebäck stan-
den bald auf dem Tisch, herzlichst angeboten von
dem gastfreien Hausherrn.
Mersbach nahm einen Schluck. „Ich komme
nicht ganz aus eigenem Antriebe. Meine Mutter —"
Der Pastor nickte mit dem Kopf.
„Meine Mutter hat Ihren Namen in der Zei-
tung gelesen und den Ort Schwarken —"
„Ah so — im vorigen Herbst! Ein Aufruf zu
Gunsten Abgebrannter. Er hatte guten Erfolg. Es
waren brave Leute."
„Meine diesjährige Urlaubsreife führt mich durch
diese Gegend. Es war also der Wunsch meiner
Mutter —"
„Bei mir vorzusprechen und — nachzuforschen?"
„So ist's, Herr Pastor."
„Ist das stolze Herz also doch weich geworden,"
murmelte Seller vor sich hin.
„Darüber habe ich kein Urteil, Herr Pastor,"
sagte Mersbach kühler als zuvor. „Ich führe einen
Auftrag aus, der iu mir die peinlichsten Empfin-
dungen weckt. Lassen Sie mich noch dies voran-
schicken: Uber diesen Gegenstand ist, solange ich
denken kann, kein Wort in meiner Familie gefallen,
kein Wort, Herr Pastor. Die Sache ist tot. Als
Knabe habe ich zufällig einige Brocken aufgefangen,
die nicht für mich berechnet waren, sonst wüßte ich
überhaupt nichts."
„Aber der Wunsch Ihrer Frau Mutter?" warf
der Pastor ein.
„Sie ist erfahren genug, um zu wissen, daß
solche Brocken an mich kommen mußten. Als ich
ihr jetzt Lebewohl sagte, fragte sie mich: Weißt du
etwas? Ich bejahte. Darauf gab sie mir den
Auftrag."
„Welchen?"
„Zu fragen, ob Sie, Herr Pastor, im Laufe der
Zeit irgend eine Nachricht erhalten hätten oder
sonstwie Fingerzeige."
Der Pastor erhob sein graues Haupt. „Nein
— nie!"
„Nie —" wiederholte Mersbach nachdenklich.
„Eine ganz unglaubliche Geschichte! Heutzutage
würde man von geistiger Unfreiheit sprechen, von
Geistestrübung, und damit Rat schaffen. Damals
ging das alles so glatt und kahl zu. Den Menschen
— es war ja wohl der Reitknecht?"
„Nein, ein Forstbeamter."
„So — ein Forstgehilfe?"
„Mein lieber Herr v. Mersbach," sagte der
Pastor tiefernst, „die Zornesleidenschast schafft mehr
Unheil, als Reue gut machen kann. Das Richt-
schwert kommt zuletzt, nicht zuerst. Einem Men-
fchen, der schiffbrüchig geworden ist, soll man nicht
die letzte Planke auch noch unter den Füßen fort-
ziehen, damit er völlig untergeht. — Das aber haben
Ihre Eltern getan."
„Ich bitte, Herr Pastor, kein Wort gegen die
Handlungsweise meiner Eltern," fiel Mersbach
heftig ein.
„Der Auftrag Ihrer Frau Mutter bezeugt mir,
daß sie sich zu meiner Auffassung bekehrt," sagte
Seller ruhig. „Wenn das Leben zur Rüste geht,
ändern sich die Gedanken. Das letzte Stündlein,
Herr Baron, wirst ein ganz besonderes Licht auf
die Vergangenheit. Auch vorher schon fällt mancher
Strahl dieses Lichtes in zornverhärtete Herzen."
„Sie ahnen ja nicht, wie meine Mutter gelitten
hat!" rief Mersbach erregt. „Man muß sie kennen,
um das zu begreifen."
„Litt ihr Herz oder ihr Stolz?"
„Beides! — Meinen Vater brachte diese miß-
ratene Tochter ins Grab. Genügt das nicht?"
Der Pastor erwiderte nichts. Er fetzte feine
Pfeife wieder in Brand und schritt langsam im
Zimmer auf und nieder.
„Warum blieben Sie nicht Seelsorger in Elben-
tal, Herr Pastor, zu einer Zeit, wo meine Eltern
Ihres Beistandes und Zuspruchs so sehr bedurft
hätten? Warum wechselten Sie damals so plötz-
lich die Stelle, ohne Rücksicht auf den Wunsch meines
Vaters? Mir erscheint diese ganze Sache so dunkel,
deshalb begrüßte ich auch den Auftrag meiner Mutter
mit Freuden. Wenn es nicht zu viel verlangt ist,
weihen Sie mich ein, geben Sie mir Klarheit über
diesen dunklen Punkt in meiner Familie."
„Du lieber Gott," sagte der Pastor, sich wieder
- Vas Luch für vlle II
in seinen Sessel werfend, „was soll ich Ihnen sagen?
Ihre Schwester war ein liebliches Mädchen, der
Förster ein fchöner Mensch. Soll ich sagen, daß
die Aufsicht Ihrer Eltern nicht wach genug war?
Die beiden liebten sich, wie eben zwei junge, un-
erfahrene Menschen sich lieben. Und dann wurden
sie in Sturm und Nacht vom Gutshofe gejagt. Zu
fpäter Stunde pochten sie an meine Tür und baten
mich, sie zu trauen, bevor sie den Weg ins Un-
gewisse antraten."
„Taten Sie's?"
„Ich hieß sie warten und ging ins Schloß, mil-
dere Empfindungen zu erwecken. Als ich unver-
richteter Sache zurückkam, waren sie verschwunden."
„Verschwunden?"
„Verfchwunden — verschollen! —- Und jetzt, wem
soll diese späte Reue noch helfen?"
„Wer spricht von Reue?" fuhr Mersbach auf.
„Eine Regung des Mitleids ist noch keine Reue.
Wenn ich an das frühe Grab meines Vaters trete,
dem der Leichtsinn seiner Tochter das Herz brach —
glauben Sie, daß eine Spur von Reue in mir wach
werden könnte? Muß nicht vielmehr alles, was
Natur und Erziehung in mich gelegt haben, sich
empören gegen diese ungeratene Schwester? Der
Wunsch meiner Mutter kann Sie nicht mehr über-
raschen als mich, denn wenn es je eine Frau
gegeben hat, die Schmerz und Kummer siegreich
unter ihre Füße trat, so ist es meine Mutter. Sie
hat den Flecken auf unserem Namen ausgelöscht,
das Ereignis vergefsen gemacht. Hoch und un-
angefochten steht sie in der Gesellschaft auf ihrem
Platz, die Herzogin selbst nennt sich ihre Freundin.
Was alle gebilligt haben, das dürste wohl das Rechte
gewesen sein."
„Wozu dann die Anfrage?"
„Ich weiß es nicht. Es kommen ja wohl Stun-
den über den Menschen, die seine Gedanken einer
anderen Richtung zuführen, ohne daß er deshalb
selbst einen Schritt vom Wege geht."
Er erhob sich.
„Nehmen wir also an, daß nur eine vorüber-
gehende Anwandlung vorliegt," sagte Pastor Seller
nicht ohne Nachdruck. „So wird meine Unwissen-
heit keine Enttäuschung verursachen."
Die Stirn des jungen Mannes rötete sich. „Sie
führen, ohne es auszusprechen, die Verteidigung
dieses Paares, Herr Pastor. Sie setzen stillschweigend
die Handlungsweise meiner Eltern ins Unrecht —
mir, dem Sohne, gegenüber. Verzeihen Sie, wenn
ich gleichfalls offen bin. Es scheint mir, daß Sie
mit Ihrem damaligen jähen Fortgang von Elben-
tal auch eine Pflicht verletzt haben — nämlich die,
meinem Vater, der, wie ich gehört habe, Ihnen
sehr wohlwollte und dem Sie persönlich nahe ge-
standen haben sollen, als Stütze zur Seite zu
bleiben. Vielleicht, daß sein Leben verlängert
worden wäre."
Pastor Seller hatte sich gleichfalls erhoben. Sein
Antlitz verlor den abweisenden Ausdruck, welcher des
jungen Mannes Mißvergnügen herausgefordert, eine
tiefe Wehmut lagerte darüber, welche den gefurchten
Zügen etwas erschütternd Ehrwürdiges verlieh.
„Das steht außer unserem Wissen," sagte er lang-
sam. „Der Herr ruft uns ab, wann er will, wir
haben nur zu folgen. Sie fordern mir Rechenschaft
ab über mein Tun. In dieser Stunde — und so
wie ich in der Vergangenheit zu Ihrer Familie
stand, will ich annehmen, Sie hätten ein Recht dazu.
Ich ging aus Elbental, weil ich nicht anders konnte,
mein Herz wäre sonst zersprungen vor Schmerz. —
Ich liebte Ihre Schwester —"
Seine Stimme ward rauh vor Erregung, indes
der junge Mann überrascht zurücktrat, und seine
dunklen Augen mit Teilnahme auf dem Antlitz des
Sprechers ruhten.
„Hoffnungslos liebte ich sie. Und ich sah sie
ins Elend gehen mit einem anderen — und konnte
nicht helfen! Nun urteilen Sie selbst."
Mersbach wagte das Schweigen nicht zu unter-
brechen. Er streckte die Hand aus, welche der Pastor
langsam ergriff und festhielt.
„Ein Seelenhirt, der es ernst mit feinem Beruf
meint, darf nicht in seinem Schmerz aufgehen, er
ist nicht für sich da, sondern für andere. In Elben-
tal aber erinnerte mich alles an das, was ich nicht
vergessen konnte. Der Zwiespalt ging noch tiefer.
Das Wort, dessen Verkündiger ich bin: Vergebt ein-
ander — hatten Ihre Eltern zurückgewiesen. Wie
sollte ich von der Kanzel herab christliche Liebe und
Duldung predigen, wenn drüben zwei Menschen
saßen, von denen ich wußte, daß sie diese Lehre
zurückwiesen?"
Der Pastor schwieg tieferschüttert, ohne des
jungen Mannes Rechte fallen zu lassen.
Dann sagte er gedämpft, indem er sein Auge
fest auf dessen Antlitz richtete: „Womit hätte ich
Ihren sterbenden Vater trösten sollen? Womit seine
3
letzte Stunde erleichtern? Auf was hin ihm Ver-
gebung verheißen?"
Er ließ Mersbachs Hand aus der seinen gleiten
und strich sich gedankenschwer über die Stirn.
Dann änderte er den Ton.
„Nun sehen Sie, das sind die Gründe meines
jähen Fortgangs. Bereut habe ich ihn nie. Ich
fand ein liebes, treues Weib — sie schlummert nicht
fern von hier zu meinem tiefen Leide. Auch Vater-
freude erlebe ich an einem wohlgeratenen Sohn.
Jahrelang, will ich noch hinzusügen wahrheitsgemäß,
habe ich auf ein Lebenszeichen Ihrer Schwester ge-
wartet und hielt zu diesem Zweck immer eine kleine
Summe bereit. Aber es kam nichts. Sie ist ver-
schollen, tot wohl schon, dem irdischen Richter ent-
rückt, dem himmlischen um so viel näher."
„Ich danke Ihnen, Herr Pastor, für Ihre Offen-
herzigkeit," sagte Mersbach ernst, wenn anch nicht
ohne Bitterkeit. „Sie türmen Anklage auf Anklage
gegen meine Eltern. Von Ihrem Standpunkt aus
mögen Sie recht haben — die Welt, in der wir
leben, denkt aber anders, also handelt sie auch
anders. Mein Auftrag ist erfüllt."
„Das ist er."
„Und somit darf ich mich verabschieden. Leben
Sie wohl, Herr Pastor! Und verzeihen Sie die
Störung."
„Ich sagte schon zuvor, daß ich mich freute, Sie
wiederzusehen — und wiederhole es."
Mersbach verneigte sich mit förmlicher Höflich-
keit und verließ das Zimmer.
Drittes Kapitel.-^...- -
Die Lackstauden im Vorgärtchen dufteten sich
fast zu Tode. Uber der Heide zitterte die heiße Luft.
Die Bewohner des Heidehauses waren heute
mit den Hühnern aufgestanden. Infolgedessen lag
die frischgewaschene Wäsche zeitig zum Aushängen
bereit im Korbe.
Dieses Geschäft besorgte Mieze.
Mit hochgekrempelten Ärmeln, den alten Hut,
ein Juwel gegen Sonnenstrahlen, auf dem Blond-
haar, die Hängeschürze über den Schultern, hing
sie eifrig Stück um Stück an die Leine.
„Soll ich helfen?"
Sie richtete sich auf die Zehen und guckte über
den Zaun.
„Wer—? Ach, Sie, Herr Willi! Sind Sie noch
nicht geschmolzen? Die Tante ist noch nicht in Wichs."
Sie sah so drollig-reizend aus in ihrem alt-
jüngferlichen Kostüm, daß Willi Seller sein Herz
hoch aufschlagen fühlte.
„So kann ich ja bei Ihnen bleiben, Fräulein
Mieze. Darf ich eintreten?"
„Wenn Sie nichts herunterreißen, ja. — Na,
guten Tag! Sie bekommen eine feuchte Patsch-
hand."
Er nahm die gebräunten Finger und drückte sie
herzlich. „Morgen muß ich fort. Ich habe ein
Kommissorium erhalten — mein erster Verdienst."
„Alle Wetter! Da gratuliere ich aber sehr."
Sie warf hastig ein paar Servietten in den Korb
zurück und reichte ihm abermals die Hand. „Das
ist ja großartig!"
„Ja — aber ich gehe fort," sagte er zaudernd.
„Schade! — Was, Fips? Da müssen wir wie-
der allein Herumlaufen."
„Tut es Ihnen wirklich leid, Fräulein Mieze?"
fragte er.
„Aber mächtig! — Der Herr Pastor wird auch
nicht gerade begeistert sein."
„Wenn ich zu Weihnachten wiederkäme, wür-
den Sie sich freuen?"
„Natürlich!"
„Ich meine, wirklich — wirklich freuen?" fragte
er noch eindringlicher.
„Soll ich Kopf stehen?" Ihre blauen Augen
lachten ihn so neckisch an, daß die Liebe zu diesem
reizenden Kinde ihn wie ein Fieber durchflog.
„Haben Sie nicht schon öfter bemerkt, daß ich
ein Narr bin?" fragte er, ihre Hand festhaltend.
„Nein — denn ich bin selber ost eine Närrin.
Da spürt man's nicht so."
„Unter Umständen wäre allerdings sogar sehr
viel Verstand in der Sache."
„So? Bei mir nie. Tante sagt —"
„Ach, das ist ja ganz gleich. — Ich wollte sagen,"
verbesserte er sich hastig, als er ihre Augen erschreckt
auf sich gerichtet sah, „die Ansicht Ihrer Tante ist
unter allen Umständen verehrungswürdig. Nur
in diesem Fall — Fräulein Mieze, wenn ich doch
wüßte, wie sich in Ihrem Köpschen die Zukunft
malt! Ich meine, wie Sie sich Ihre eigene Zukunst
träumen?"
Sie ließ die nasse Serviette vor Staunen fallen.
„Wie ich —? Warten Sie mal! Ja, was wird
wohl ai:S mir werden? Eine zweite Taut: — was
ist mir eine ganz besondere Freude, ein Mitglied
Ihrer Familie wiederzusehen. Lange, lange ist's
her, seit ich Ihre ersten Gehversuche sah."
Mersbach verneigte sich höflich, obwohl ihn diese
Erinnerung kalt ließ.
„Darf ich bitten, Platz zu nehmen? Ich hörte
Ihren Wagen nicht —"
„Ich kam zu Fuß über Darkehmen und will
auch so zurückkehren. Die Gegend ist recht roman-
tisch hier."
„Das ist wahr — sie wird einem sehr lieb."
Wein und Selterwasser, Obst und Gebäck stan-
den bald auf dem Tisch, herzlichst angeboten von
dem gastfreien Hausherrn.
Mersbach nahm einen Schluck. „Ich komme
nicht ganz aus eigenem Antriebe. Meine Mutter —"
Der Pastor nickte mit dem Kopf.
„Meine Mutter hat Ihren Namen in der Zei-
tung gelesen und den Ort Schwarken —"
„Ah so — im vorigen Herbst! Ein Aufruf zu
Gunsten Abgebrannter. Er hatte guten Erfolg. Es
waren brave Leute."
„Meine diesjährige Urlaubsreife führt mich durch
diese Gegend. Es war also der Wunsch meiner
Mutter —"
„Bei mir vorzusprechen und — nachzuforschen?"
„So ist's, Herr Pastor."
„Ist das stolze Herz also doch weich geworden,"
murmelte Seller vor sich hin.
„Darüber habe ich kein Urteil, Herr Pastor,"
sagte Mersbach kühler als zuvor. „Ich führe einen
Auftrag aus, der iu mir die peinlichsten Empfin-
dungen weckt. Lassen Sie mich noch dies voran-
schicken: Uber diesen Gegenstand ist, solange ich
denken kann, kein Wort in meiner Familie gefallen,
kein Wort, Herr Pastor. Die Sache ist tot. Als
Knabe habe ich zufällig einige Brocken aufgefangen,
die nicht für mich berechnet waren, sonst wüßte ich
überhaupt nichts."
„Aber der Wunsch Ihrer Frau Mutter?" warf
der Pastor ein.
„Sie ist erfahren genug, um zu wissen, daß
solche Brocken an mich kommen mußten. Als ich
ihr jetzt Lebewohl sagte, fragte sie mich: Weißt du
etwas? Ich bejahte. Darauf gab sie mir den
Auftrag."
„Welchen?"
„Zu fragen, ob Sie, Herr Pastor, im Laufe der
Zeit irgend eine Nachricht erhalten hätten oder
sonstwie Fingerzeige."
Der Pastor erhob sein graues Haupt. „Nein
— nie!"
„Nie —" wiederholte Mersbach nachdenklich.
„Eine ganz unglaubliche Geschichte! Heutzutage
würde man von geistiger Unfreiheit sprechen, von
Geistestrübung, und damit Rat schaffen. Damals
ging das alles so glatt und kahl zu. Den Menschen
— es war ja wohl der Reitknecht?"
„Nein, ein Forstbeamter."
„So — ein Forstgehilfe?"
„Mein lieber Herr v. Mersbach," sagte der
Pastor tiefernst, „die Zornesleidenschast schafft mehr
Unheil, als Reue gut machen kann. Das Richt-
schwert kommt zuletzt, nicht zuerst. Einem Men-
fchen, der schiffbrüchig geworden ist, soll man nicht
die letzte Planke auch noch unter den Füßen fort-
ziehen, damit er völlig untergeht. — Das aber haben
Ihre Eltern getan."
„Ich bitte, Herr Pastor, kein Wort gegen die
Handlungsweise meiner Eltern," fiel Mersbach
heftig ein.
„Der Auftrag Ihrer Frau Mutter bezeugt mir,
daß sie sich zu meiner Auffassung bekehrt," sagte
Seller ruhig. „Wenn das Leben zur Rüste geht,
ändern sich die Gedanken. Das letzte Stündlein,
Herr Baron, wirst ein ganz besonderes Licht auf
die Vergangenheit. Auch vorher schon fällt mancher
Strahl dieses Lichtes in zornverhärtete Herzen."
„Sie ahnen ja nicht, wie meine Mutter gelitten
hat!" rief Mersbach erregt. „Man muß sie kennen,
um das zu begreifen."
„Litt ihr Herz oder ihr Stolz?"
„Beides! — Meinen Vater brachte diese miß-
ratene Tochter ins Grab. Genügt das nicht?"
Der Pastor erwiderte nichts. Er fetzte feine
Pfeife wieder in Brand und schritt langsam im
Zimmer auf und nieder.
„Warum blieben Sie nicht Seelsorger in Elben-
tal, Herr Pastor, zu einer Zeit, wo meine Eltern
Ihres Beistandes und Zuspruchs so sehr bedurft
hätten? Warum wechselten Sie damals so plötz-
lich die Stelle, ohne Rücksicht auf den Wunsch meines
Vaters? Mir erscheint diese ganze Sache so dunkel,
deshalb begrüßte ich auch den Auftrag meiner Mutter
mit Freuden. Wenn es nicht zu viel verlangt ist,
weihen Sie mich ein, geben Sie mir Klarheit über
diesen dunklen Punkt in meiner Familie."
„Du lieber Gott," sagte der Pastor, sich wieder
- Vas Luch für vlle II
in seinen Sessel werfend, „was soll ich Ihnen sagen?
Ihre Schwester war ein liebliches Mädchen, der
Förster ein fchöner Mensch. Soll ich sagen, daß
die Aufsicht Ihrer Eltern nicht wach genug war?
Die beiden liebten sich, wie eben zwei junge, un-
erfahrene Menschen sich lieben. Und dann wurden
sie in Sturm und Nacht vom Gutshofe gejagt. Zu
fpäter Stunde pochten sie an meine Tür und baten
mich, sie zu trauen, bevor sie den Weg ins Un-
gewisse antraten."
„Taten Sie's?"
„Ich hieß sie warten und ging ins Schloß, mil-
dere Empfindungen zu erwecken. Als ich unver-
richteter Sache zurückkam, waren sie verschwunden."
„Verschwunden?"
„Verfchwunden — verschollen! —- Und jetzt, wem
soll diese späte Reue noch helfen?"
„Wer spricht von Reue?" fuhr Mersbach auf.
„Eine Regung des Mitleids ist noch keine Reue.
Wenn ich an das frühe Grab meines Vaters trete,
dem der Leichtsinn seiner Tochter das Herz brach —
glauben Sie, daß eine Spur von Reue in mir wach
werden könnte? Muß nicht vielmehr alles, was
Natur und Erziehung in mich gelegt haben, sich
empören gegen diese ungeratene Schwester? Der
Wunsch meiner Mutter kann Sie nicht mehr über-
raschen als mich, denn wenn es je eine Frau
gegeben hat, die Schmerz und Kummer siegreich
unter ihre Füße trat, so ist es meine Mutter. Sie
hat den Flecken auf unserem Namen ausgelöscht,
das Ereignis vergefsen gemacht. Hoch und un-
angefochten steht sie in der Gesellschaft auf ihrem
Platz, die Herzogin selbst nennt sich ihre Freundin.
Was alle gebilligt haben, das dürste wohl das Rechte
gewesen sein."
„Wozu dann die Anfrage?"
„Ich weiß es nicht. Es kommen ja wohl Stun-
den über den Menschen, die seine Gedanken einer
anderen Richtung zuführen, ohne daß er deshalb
selbst einen Schritt vom Wege geht."
Er erhob sich.
„Nehmen wir also an, daß nur eine vorüber-
gehende Anwandlung vorliegt," sagte Pastor Seller
nicht ohne Nachdruck. „So wird meine Unwissen-
heit keine Enttäuschung verursachen."
Die Stirn des jungen Mannes rötete sich. „Sie
führen, ohne es auszusprechen, die Verteidigung
dieses Paares, Herr Pastor. Sie setzen stillschweigend
die Handlungsweise meiner Eltern ins Unrecht —
mir, dem Sohne, gegenüber. Verzeihen Sie, wenn
ich gleichfalls offen bin. Es scheint mir, daß Sie
mit Ihrem damaligen jähen Fortgang von Elben-
tal auch eine Pflicht verletzt haben — nämlich die,
meinem Vater, der, wie ich gehört habe, Ihnen
sehr wohlwollte und dem Sie persönlich nahe ge-
standen haben sollen, als Stütze zur Seite zu
bleiben. Vielleicht, daß sein Leben verlängert
worden wäre."
Pastor Seller hatte sich gleichfalls erhoben. Sein
Antlitz verlor den abweisenden Ausdruck, welcher des
jungen Mannes Mißvergnügen herausgefordert, eine
tiefe Wehmut lagerte darüber, welche den gefurchten
Zügen etwas erschütternd Ehrwürdiges verlieh.
„Das steht außer unserem Wissen," sagte er lang-
sam. „Der Herr ruft uns ab, wann er will, wir
haben nur zu folgen. Sie fordern mir Rechenschaft
ab über mein Tun. In dieser Stunde — und so
wie ich in der Vergangenheit zu Ihrer Familie
stand, will ich annehmen, Sie hätten ein Recht dazu.
Ich ging aus Elbental, weil ich nicht anders konnte,
mein Herz wäre sonst zersprungen vor Schmerz. —
Ich liebte Ihre Schwester —"
Seine Stimme ward rauh vor Erregung, indes
der junge Mann überrascht zurücktrat, und seine
dunklen Augen mit Teilnahme auf dem Antlitz des
Sprechers ruhten.
„Hoffnungslos liebte ich sie. Und ich sah sie
ins Elend gehen mit einem anderen — und konnte
nicht helfen! Nun urteilen Sie selbst."
Mersbach wagte das Schweigen nicht zu unter-
brechen. Er streckte die Hand aus, welche der Pastor
langsam ergriff und festhielt.
„Ein Seelenhirt, der es ernst mit feinem Beruf
meint, darf nicht in seinem Schmerz aufgehen, er
ist nicht für sich da, sondern für andere. In Elben-
tal aber erinnerte mich alles an das, was ich nicht
vergessen konnte. Der Zwiespalt ging noch tiefer.
Das Wort, dessen Verkündiger ich bin: Vergebt ein-
ander — hatten Ihre Eltern zurückgewiesen. Wie
sollte ich von der Kanzel herab christliche Liebe und
Duldung predigen, wenn drüben zwei Menschen
saßen, von denen ich wußte, daß sie diese Lehre
zurückwiesen?"
Der Pastor schwieg tieferschüttert, ohne des
jungen Mannes Rechte fallen zu lassen.
Dann sagte er gedämpft, indem er sein Auge
fest auf dessen Antlitz richtete: „Womit hätte ich
Ihren sterbenden Vater trösten sollen? Womit seine
3
letzte Stunde erleichtern? Auf was hin ihm Ver-
gebung verheißen?"
Er ließ Mersbachs Hand aus der seinen gleiten
und strich sich gedankenschwer über die Stirn.
Dann änderte er den Ton.
„Nun sehen Sie, das sind die Gründe meines
jähen Fortgangs. Bereut habe ich ihn nie. Ich
fand ein liebes, treues Weib — sie schlummert nicht
fern von hier zu meinem tiefen Leide. Auch Vater-
freude erlebe ich an einem wohlgeratenen Sohn.
Jahrelang, will ich noch hinzusügen wahrheitsgemäß,
habe ich auf ein Lebenszeichen Ihrer Schwester ge-
wartet und hielt zu diesem Zweck immer eine kleine
Summe bereit. Aber es kam nichts. Sie ist ver-
schollen, tot wohl schon, dem irdischen Richter ent-
rückt, dem himmlischen um so viel näher."
„Ich danke Ihnen, Herr Pastor, für Ihre Offen-
herzigkeit," sagte Mersbach ernst, wenn anch nicht
ohne Bitterkeit. „Sie türmen Anklage auf Anklage
gegen meine Eltern. Von Ihrem Standpunkt aus
mögen Sie recht haben — die Welt, in der wir
leben, denkt aber anders, also handelt sie auch
anders. Mein Auftrag ist erfüllt."
„Das ist er."
„Und somit darf ich mich verabschieden. Leben
Sie wohl, Herr Pastor! Und verzeihen Sie die
Störung."
„Ich sagte schon zuvor, daß ich mich freute, Sie
wiederzusehen — und wiederhole es."
Mersbach verneigte sich mit förmlicher Höflich-
keit und verließ das Zimmer.
Drittes Kapitel.-^...- -
Die Lackstauden im Vorgärtchen dufteten sich
fast zu Tode. Uber der Heide zitterte die heiße Luft.
Die Bewohner des Heidehauses waren heute
mit den Hühnern aufgestanden. Infolgedessen lag
die frischgewaschene Wäsche zeitig zum Aushängen
bereit im Korbe.
Dieses Geschäft besorgte Mieze.
Mit hochgekrempelten Ärmeln, den alten Hut,
ein Juwel gegen Sonnenstrahlen, auf dem Blond-
haar, die Hängeschürze über den Schultern, hing
sie eifrig Stück um Stück an die Leine.
„Soll ich helfen?"
Sie richtete sich auf die Zehen und guckte über
den Zaun.
„Wer—? Ach, Sie, Herr Willi! Sind Sie noch
nicht geschmolzen? Die Tante ist noch nicht in Wichs."
Sie sah so drollig-reizend aus in ihrem alt-
jüngferlichen Kostüm, daß Willi Seller sein Herz
hoch aufschlagen fühlte.
„So kann ich ja bei Ihnen bleiben, Fräulein
Mieze. Darf ich eintreten?"
„Wenn Sie nichts herunterreißen, ja. — Na,
guten Tag! Sie bekommen eine feuchte Patsch-
hand."
Er nahm die gebräunten Finger und drückte sie
herzlich. „Morgen muß ich fort. Ich habe ein
Kommissorium erhalten — mein erster Verdienst."
„Alle Wetter! Da gratuliere ich aber sehr."
Sie warf hastig ein paar Servietten in den Korb
zurück und reichte ihm abermals die Hand. „Das
ist ja großartig!"
„Ja — aber ich gehe fort," sagte er zaudernd.
„Schade! — Was, Fips? Da müssen wir wie-
der allein Herumlaufen."
„Tut es Ihnen wirklich leid, Fräulein Mieze?"
fragte er.
„Aber mächtig! — Der Herr Pastor wird auch
nicht gerade begeistert sein."
„Wenn ich zu Weihnachten wiederkäme, wür-
den Sie sich freuen?"
„Natürlich!"
„Ich meine, wirklich — wirklich freuen?" fragte
er noch eindringlicher.
„Soll ich Kopf stehen?" Ihre blauen Augen
lachten ihn so neckisch an, daß die Liebe zu diesem
reizenden Kinde ihn wie ein Fieber durchflog.
„Haben Sie nicht schon öfter bemerkt, daß ich
ein Narr bin?" fragte er, ihre Hand festhaltend.
„Nein — denn ich bin selber ost eine Närrin.
Da spürt man's nicht so."
„Unter Umständen wäre allerdings sogar sehr
viel Verstand in der Sache."
„So? Bei mir nie. Tante sagt —"
„Ach, das ist ja ganz gleich. — Ich wollte sagen,"
verbesserte er sich hastig, als er ihre Augen erschreckt
auf sich gerichtet sah, „die Ansicht Ihrer Tante ist
unter allen Umständen verehrungswürdig. Nur
in diesem Fall — Fräulein Mieze, wenn ich doch
wüßte, wie sich in Ihrem Köpschen die Zukunft
malt! Ich meine, wie Sie sich Ihre eigene Zukunst
träumen?"
Sie ließ die nasse Serviette vor Staunen fallen.
„Wie ich —? Warten Sie mal! Ja, was wird
wohl ai:S mir werden? Eine zweite Taut: — was