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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0041
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Var Luch MMe
Illustrierte t^amilienreitung
2.1?est. 1Y07.

— und Mia saß mit Fräulein Schmidt im geschlosse-
nen Wagen, eine Flut von Ermahnungen und Trö-
stungen über sich ergehen lassend.
Und dann waren sie an der Bahn.
„Adieu, mein Herz! — Auf Wiedersehen!"
Der Zug brauste in die Nacht hinaus.
Und wie die fliehenden Dampfwolken Meile auf
Meile mit verzerrten Schatten bedeckten, wie stie-
bende Funkenschwärme wechselnd auf Wald und
Wiese flogen, legte sich der gesunde Jugendschlaf
auf Mias rotgeweinte Lider.
Sie träumte von einem Mann in weißem Anzug
mit gelben Schuhen. Er streckte die Hand aus nach
den Rofen, die sie in der Rechten hielt. Plötzlich
stand die schöne Seejungfrau zwischen ihnen und
schlug ihr die Rosen aus der Hand.-
Mia wachte erschreckt auf. Es war Tag.
Die blaugeschirmte Lampe über ihr war längst
erloschen. Morgenküble lag dunstig auf den Fluren,
perlte und tropfte von den Scheiben.
In den Dörfern regte sich's. Den Schornsteinen
entquollen dünne Rauchsäulen.
Und jetzt brach die Sonne wie eine Siegerin
durch das Frühgewölk.

, pdotogl-aphieoel-lag von r>anr ffanfstaengl in München.
Lin 5tui-müngl-isf. Nach einem 6emalde von N. 8chl-6del-.


(roUsehung.)

(Nachdruck verboten.)

sieze tanzte noch r

>8

immer, beseligt aus
einem Arm in den anderen fliegend,
als Fräulein Laura sie bei der Hand
nahm und an ihre Seite zog.
„Mein gutes, mein liebes Kind —

das Leben ist ein Widerspruch — oft gar nicht zu
lösen. Während wir vergnügt sind, leidet vielleicht
jemand, der uns nahesteht, und wir ahnen es nicht.
Wir sind eben alle sterblich und bösen Zufällen
ausgesetzt."
„Ja, gewiß," sagte Mia mit lachenden Augen.
„Es trifft gerade den bisweilen, den man am
liebsten hat. Wenn zum Beispiel" — Fräulein
Laura sah nach der Uhr — „Ihrer Tante etwas
zugestoßen wäre?"
„Meiner Tante?" rief Mia und drückte ihre

Hand gegen die Stirn, als zöge ein häßlicher Traum
dahinter vorüber.
„Ihrer Tante, ja — leider, gutes Kind! Es
tut uns unbeschreiblich leid, aber Herr Pastor Seller
bittet um Ihre sofortige Rückkehr, damit Ihr, An-
blick der Kranken hoffentlich schnelle Genesung bringe.
Also — um zehn Uhr geht der Zug. Kleiden Sie
sich jetzt um!"
Mia war vor Schreck erbleicht. „Allgütiger Gott!
Meine Tante! — Ich will zu ihr!" —
Droben in ihrem Zimmer, wo jetzt der Rosen-
kranz auf dem Tisch, das weiße Kleid über dem Bett
lag, stand sie bald darauf reisefertig am Fenster,
neben allem Schmerz ein tiefes Reuegefühl im Herzen.
Wie weit, wie weit waren ihre Gedanken in
diesen letzten Monaten von der Heide und dem
Heidehaus entfernt geblieben! Wann hatte sie je
im Geist Einkehr gehalten in die Räume, wo Treue
und Liebe nicht müde wurden, ihrer zu gedenken?
Mia drückte die Hände gegen das Gesicht, um
nicht laut aufzuschluchzen.
Um ihr den Abschied zu erleichtern, untersagten
die Vorstandsdamen jedes Lebewohl von selten der
fröhlichen Zöglinge. Noch eine rasche Umarmung

wär'ich geblieben doch!
Itoirnm von
6eorg Hartwig (kmrng Koeppel).

II. 1007.
 
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