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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0042
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28-- -
„Station Zernow!"
Mia hatte das Leid abgetan, die Freude des
Wiedersehens überwog. Sie erblickte den Pastor
und sprang leichtfüßig aus dem Wagen ihm ent-
gegen.
„Da bin ich!"
„Da bist du —" sagte Seller sehr weich und be-
rührte ihre Stirn mit den Lippen. „Auch ich bin
da, den Weg gemeinsam mit dir zu machen."
„Wie geht's meiner guten, guten Tante? —
Ich habe bloß den kleinen Koffer, Herr Pastor."
„Sehr schön! — Nun, nimm Platz. Wir wollen
nicht unnütz plaudern. Wir wollen inzwischen, wenn
wir durch die Gottesschöpfung fahren, recht ernste
und zuversichtliche Gedanken haben — und uns in
unsere Pflicht versenken, als gläubige Christen
demütig zu tragen, was Gott uns sendet und auf-
erlegt."
„Ja," sagte Mia tiefbewegt. „Ich will die liebe
Tante gewiß gut pflegen."
„Jawohl, das willst du," sagte der Pastor, ihre
Hand in die seine nehmend. „Das ist dein Wunsch.
Aber, mein Kind, unsere Wünsche gehen nicht alle-
zeit in Erfüllung. Man kann das Allerbeste wollen
und erreicht doch nichts. Sieh, deine Tante ist
schwer erkrankt. Sie ist von der Leiter gestürzt vor-
gestern, als sie revidieren wollte nach ihrer Gewohn-
heit. Sehr schwer herabgestürzt ist sie, meine kleine
Mieze."
Ihr Herz schlug so wild auf, daß ihr das Wort
erstarb.
„Und da wollte sie dich noch gern sehen. — Weine
dich nur aus, mein Kind, du hast Ursache. — Ver-
säumt ist nichts. Gottes Ratschlüsse sind oft wun-
derbar."
Mia war's, als ob die Sonne und alles, was
Glück und Hoffen spendet, mit einem Schlage vor
ihr in die Erde versänke. Sie sah nicht mehr die
Fülle der Wiesenblumen sich wie einen bunten Tep-
pich über die Auen breiten, sie hörte nicht mehr den
vielstimmigen Gesang der Vögel in den Büschen.
Sie weinte, bis ihre Tränen erschöpft waren.
Da lag die Heide vor ihr, — und jetzt das Häus-
chen mit qualmendem Schornstein, so friedlich und
idyllisch.
Der Wagen hielt.
Aus der Tür trat Sodmann. Er war unfähig
zu sprechen.
An ihm vorbei stürmte Fips. Wie unsinnig, vor
Freude heulend, sprang er auf Mia ein, sie fast
umstoßend.
Sie kauerte schon am Boden und drückte den
Pudel an sich.
„Komm nun," sagte Pastor Seller und ging ihr
voran ins Haus, durch den Flur ins Hinterzimmer,
von dessen Fenster die Vorhänge weit zurückgezogen
waren.
„Tante —"
Mia stürzte zum Bett, von dem das alte Fräu-
lein ihr mit unendlicher Liebe die Hand entgegen-
streckte.
„Das ist schön von dir —"
Sie sprach so leise und sah so blaß aus, daß es
Mia kalt über den Rücken lief.
Was da kommen mußte, erfaßte sie aber noch
nicht annähernd.
„Ich möchte mit Mieze allein sein."
„Ach, sprich doch nicht!" bat Mia, am Bett
niederknieend und die Arme um die Sterbende
schlingend.
Das alte Fräulein, ihr nahes Ende fühlend,
nahm alle Kraft zusammen. „Du mußt jetzt selbst
dein Brot verdienen. Es wird ein Mann dich fra-
gen, ob du ihn heiraten willst —"
„Ich will nicht heiraten," schluchzte Mia, ihr
Gesicht in die Kissen drückend. „Ich will bei dir
bleiben."
„Kennst du einen Mann, den du lieb hast? Be-
sinne dich!"
„Keinen — keinen!"
„Also kann's nicht geschehen. Rufe den Herrn
Pastor!"
Mia stürzte fort. Sie wußte nicht, waS das
Heiraten mit dieser Stunde zn tun hatte.
„Lieber Freund," flüsterte Fräulein Helling,
„mir ist der Tod sehr nahe. Ich wäre noch nötig
gewesen. — Hören Sie?"
Der Pastor neigte sein Ohr dicht an die Lippen
der Sterbenden. Als er sein Haupt wieder erhob,
zeigte sein Antlitz einen erschütternden Ausdruck.
„Es geschehe, wie Sie wollen. Sicher wäre ihr
Seelenfrieden in meinem Hause gewesen."
„Zu einsam — ihr heißes Herz —"
„Noch gebe ich die Hoffnung nicht auf."
„Wie Gott will. Grüßen Sie Willi. Und
bleiben Sie ihr treu. Ihr Versprechen — "
„Sie haben es. Kann ich sonst —?"
Sie antwortete nicht. Ihre Lippen preßten

Luch fül- Mle -
sich fester aufeinander, während ihre Augen starr
auf einen Punkt gerichtet blieben.
„Offnen Sie Ihr Herz. Haben Sie Vertrauen,"
sagte Seller mit sanfter Dringlichkeit. „Was kann
ich tun, Ihnen die letzte Stunde zn erleichtern?"
Sie griff nach seiner Hand. Nicht mehr fähig,
sie zu drücken, hielt sie dieselbe umspannt, während
er sich abermals über sie neigte.
„Ich habe — es war gute Absicht —" flüsterte
sie hastig, indes ihre Stirne sich schon mit Todes-
schweiß zu bedecken begann. „Miezes Tauszcugnis—"
Er sah sie betroffen an. „Was ist's mit ihm?"
„Ich habe Sie getäuscht," murmelte sie, ihre
letzte Kraft zusammennehmend. „Die Flecke —
— ich selbst goß das Tintenfaß — niemand sollte
die Namen — Vergebung — ich — ich —"
Sie atmete schwer.
Seller trocknete ihre kalte Stirn. „Friede sei
mit Ihnen! Gott richtet die Gedanken —die Ihrigen
waren gut."
Sie nickte.
Seller ging zur Tür, Mia und Sodmann herein-
zurufen.
Sodmann stellte sich mit gefalteten Händen an
das Bettende, die nassen Augen auf seine Herrin
gerichtet.
„Sodmann — Er, Fips, die Ziege, das Haus —
der Pastor weiß — die Kartoffeln — ich —"
Sie versuchte noch, ihm die Hand entgegenzu-
strecken. Er nahm sie in seine ausgearbeiteten Finger
und drückte sie zärtlich.
„Gott segne Sie, gnä — Fräulein Helling! Sie
waren zu gut —"
Ein seltsames Lächeln huschte um ihren Mund.
„Jetzt wird mir leicht —"
Sie legte den Kopf schwer in die Kissen. Ein
Zittern — ein Zucken —
Der Pastor sprach laut das Vaterunser.
„Denn dein ist das Reich und die Kraft und die
Herrlichkeit —"
Da entfloh der letzte Seufzer.
Mia stand neben dem Tod, sie sah ihn an und
begriff ihn nicht. Sie wartete darauf, daß die ge-
schlossenen Augen sich wieder öffneten und ihr zu-
nickten. Mit angstzitternder Stimme rief sie die
Verstorbene an und preßte ihre Lippen auf die er-
kaltenden Hände, daß sie sich austäten, ihre Wange
zu streicheln, bis Pastor Seller sie mit sanfter Ge-
walt vom Sterbebett und aus dem Sterbezimmer
führte.
„Du sollst nun eine Zeitlang bei mir wohnen,
so wünschte es deine Tante, bis wir sie der ewigen
Ruhe übergeben haben. Dann wirst du zu den
Damen Brinkmann zurückkehren, um für deinen zu-
künftigen Beruf als Gesellschaftsfräuleiu gründlich
vorgebildet zu werden."
„Ich weiß," flüsterte Mia, ihre heißen Augen
gegen die Schulter des Pastors drückend, „ich soll
mir mein Brot nun selbst verdienen."
Und während sie drüben im Pfarrhause an:
Giebelfenster stand und über die dunkle Heide schaute,
welche der Nachtwind zornig aus dem Schlaf schreckte,
ging im Heidehause ein matter Lichtschein auf.
Zwei Kerzen brannten neben dem Sarge. Sod-
mann hielt die Leichenwache. Mit gefalteten Hän-
den saß er regungslos zu den Füßen derer, die für
ihn die Vollkommenheit auf Erden gewesen war. —
Zur selben Stunde saß Pastor Seller in seinem
Studierzimmer beim Lampenlicht nnd las mit er-
regten Zügen den schriftlichen Nachlaß der Ver-
blichenen durch, den er auf ihren Wunsch an sich
genommen und aufbewahrte.

Ter Weg zum Dorfkirchhof war weit, die Straße
sandig. Dazu ging der Regen strichweise nieder. Er
feuchtete die ausgeschaufelte Gruft, er feuchtete den
aufgeworfenen Hügel, den spärliche Kränze deckten.
Unter den Leidtragenden befand sich auch Rechts-
anwalt Seller, den die überraschende Kunde aus
seiner Arbeit aufgeschreckt uud hergeführt hatte.
Die lachende Mieze, welche seine unverstandenen
Gefühle übermütig bestelle geschoben, erkannte
er nicht wieder in dem schmerzzitternden Mädchen,
das seines Vaters Hand umklammert hielt und vor
Tränen den Weg nicht sah, den er sie führte. —
Später wohnte Mia wieder im Hcidehaus, bis
die Herbstferien zu Ende gingen, und ein neuer
Kursus in der Anstalt begann.
Am Nachmittag vor seiner Abreise suchte Willi
Seller die Vereinsamte noch einmal auf.
Sodmann, emsig Kohlkvpfe aus dem Garten in
den Keller tragend, wies mit der Schaufel heide-
wärts. „Fräulein Mieze und Fips find dort!"
So ging er durch das blühende Heidekraut, das
in der Sonne seltsam scharfe Düfte aushauchte, zu
der Schwarzkiefcr, unter deren verworrenem Geäst
Mia saß, den Pudel zu Füßen, und vor sich hin-
träumte.

... . 77777 Heft 2
Er warf sich zu ihr nieder in die knisternden
Stauden. Sein Herz war schwer.
Er hatte eine leidenschaftliche Unterredung mit
seinem Vater gehabt, den er veranlassen wollte, den
letzten Willen des alten Fräuleins unbeachtet zu
lassen und das holdselige Geschöpf in seiner Nähe
zu behalten.
„Ich bitte Sie," sagte er gepreßt, „glauben Sie
doch an mich als Ihren besten, allerbesten Freund.
Ich weiß ja nicht, was ich tun soll, Sie davon zu
überzeugen. Meine Hände sind gebunden — Sie
selbst binden sie mir."
„Aber wie denn?" fragte sie kopfschüttelnd.
„Sind Sie fern von hier glücklich gewesen?"
„Doch! Es war sehr schön," flüsterte sie.
Er biß sich auf die Lippe. „Biu ich wenigstens
noch Ihr guter Freund?" fragte er hastig.
Sie nickte.
„An was dachten Sie, als ich kam? Wollen
Sie mir das sagen?"'
Sie sah träumerisch in den bläulichen Dunst, dar-
über der Heide lag. „Ich — Tante sagte, es würde
ein Mann kommen, der mich heiraten wollte. Ich
sollte mich besinnen, ob ich jemand lieb hätte. Ich
besinne mich immerfort," sagte sie rascher atmend,
„immerfort, aber ich habe keinen lieb — und will
auch keinen heiraten."
Er sah sie forschend an. „Wirklich? Sie haben
keinen Mann lieb? — Haben Sie denn einen Be-
griff davon, was lieben heißt? Bon dem, was ein
Mann fühlt, der sein Herz verschenkt? Was es
heißt, eines Mannes Herz zu besitzen? Sich ihm
anzuvertrauen fürs ganze Leben?"
„Nein, bitte, das weiß ich nicht," sagte sie hastig.
„Ich soll auch nur wissen, ob ich jemand lieb habe.
Und weil Tante es gewollt hat, besinne ich mich
immerfort."
Er stand auf. „Wollen Sie noch länger auf der
Heide bleiben? Es dämmert."
Es war ihm unmöglich, den alten Ton wieder
aufzunehmen, der sonst zwischen ihnen geherrscht.
Seine Frage klang scharf und bestimmt.
Gehorsam stand sie auf.
„Wie lange Zeit werden Sie brauchen, uns ins-
gesamt zu vergessen? Ich meine, über allem, was
Ihnen vorgemacht werden und was Ihr Wohlge-
fallen erregen wird?"
Freilich hatte sie schon einmal vergessen. Das
Blut stieg ihr verräterisch in die Wangen.
Er lächelte bitter.
„Vielleicht besinnen Sie sich dann rascher und
erfolgreicher. Viel Glück — und was Ihre Tante
sonst für wünschenswert gehalten —"
Sie sah ihn freundlich an. „Tanke!"
Er wollte es nicht, aber unwillkürlich streckte er
die Hand aus.
Sie legte ihre Rechte hinein.
Er betrachtete den Unterschied zwischen den ein-
stigen braungebrannten Fingern und dieser weißen
Mädchenhand; ihren leuchtenden Teint, das reine
Goldblond ihrer Haare betrachtete er.
„Der Anfang ist schon gemacht," sagte er bitter
genug, ließ ihre Hand aus der seinen gleiten und
ging davon. —
Am Tag der Abreise erschien Pastor Seller mit
seinem Gefährt, das ihn sonntäglich in die ein-
gepfarrten Dörfer brachte, und in welchem jetzt Mia
zum zweiten Male den Weg zur Bahnstation Zer-
now machen sollte.
Es war ein wundervoller Herbsttag.
Noch lag leichter Nebel auf der raunenden Heide,
die wie ein braunes Meer sich ins Unendliche zu
verlieren schien.
Mia stand im Garten und sah über den Zaun
hinweg in ihr Jugendrcich zum letzteu Male — und
dieses stille Heidebild, dieser wolkenlose Gottes-
frieden grub sich tief in ihre junge Seele und ver-
sank darin.
Als der Pastor erschien, war sie zum Aufbruch
bereit. Er aber nahm ihre Hand und führte sie
noch einmal ins Haus zurück.
„Ich habe dir noch eine Mitteilung zu machen
— nach dem Wunsche deiner Tante, wie ich solche
bereits auch den Damen Brinkmann gemacht habe.
— Deine Tante hatte — aus gewissen Gründen —
ihren Familiennamen so weit abgelegt, daß sie
sich nicht mehr Freiin v. Helling nannte, sondern
schlichtweg Fräulein Helling. Du wirst also von
nun an, da die Verstorbene dich schon längst adop-
tiert hat, Baronesse v. Helling genannt werden.
Ich habe dir ferner mitzuteilen, daß die bare
Hinterlassenschaft deiner Tante die Kosten deiner
Ausbildung trägt, und daß die Damen Brinkmann
mir versprochen haben, dir seinerzeit eine Stellung
verschaffen zu wollen. Ferner gehört dir dieses
Häuschen, in welchem Sodmann und Fips zu ver-
bleiben haben bis an ihr Ende. Sodmann wird
dein Eigentum verwalten, so daß dir immer eine
 
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