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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 42.1907

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Heft 23
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https://doi.org/10.11588/diglit.60738#0551
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ve^Luch fülMe
fllustnette stamil'ienreitung
23. Hest. 1Y07.

Des pfinr-6emahl.
^oman von Henriette o. Meerheimd.
(vortsebung.) . » ... -(Nachdruck oerdotsn.)
viettes Kapitel.
^^6adine blieb, erstaunt in der offenen Tür
I MW stehen, als sie am nächsten Mittag nach
I v/1 Hause kam. Wie anders sah das häßliche,
M// W armselige Zimmer, das ihr und Lucy als
.1^1 Wohn- und Arbeitsraum diente, heute
auf einmal aus! Auf dem Kamin zwischen den zwei
Messingleuchtern, die in keiner Pariser Wohnung
fehlen dürfen, machte sich eine metallisch glitzernde
GlaSschale breit, über deren Rand wundervolle
Rosen hingen. Mitten auf dem Tisch aber, keck
hineingesetzt unter all das schadhafte Porzellan-
geschirr des Speisehauses, fiel der Frühlingssonnen-
schein voll und breit über einen kostbaren blauen
Delfterkrug mit schlanken weißen Lilien darin. Der
starke Rosen- und Liliengeruch durchzog das ganze
Zimmer.
Lucy lachte über Nadines Staunen. „Kommen
Sie nur näher und freuen Sie sich an Ihren Blumen
und Vasen! Tas ist so recht was für Sie!"
„Wo kommen die Blumen her?" Nadine beugte
ihr müdes Gesicht tief über die Rosen. Wie wohl
der süße Tust, die schmeichelnde Berührung der
zarten, kühlen Blätter tat!

„Das werden Sie wohl erraten! Ich fand die
Blumen und diese Visitenkarte von Herrn v.Stechow,
als ich aus der Malklasse nach Hause kam. Unser
Ritter von gestern abend war so galant, unsere
Hütte in ein Schloß verwandeln zu wollen. Nun,
meiner Sommersprossen wegen wird er sich nicht
in solche Unkosten stürzen. Danken Sie also Gott
für Ihre schönen schwarzen Augen, denen zuliebe
unser Zimmer heut einmal nicht nach Zwiebeln und
Kohl riecht. Um halb fünf Uhr wird Stechow Sie
im Wagen abholen."
„Ich fahre nur, wenn Sie mitkommen, Lucy!"
„Danke verbindlich. Erstens hat Stechow mich
gar nicht aufgefordert, zweitens muß ich ins Museum
gehen und den Rokokofächer kopieren. Sonst kann
ich nächsten Montag die Wochenmiete nicht be-
zahlen."
„Der Fächer hat Zeit. Ich habe noch Geld,
Lucy. Kommen Sie nur mit! Eine Zerstreuung
tut Ihnen ebenso nötig, wie mir."
„Zwei ist eine gute Zahl, bei dreien ist einer
immer überflüssig. Verderben Sie sich den Tag
nicht. Mitnehmen, was er bringt, ist Lebens-
kunst."
Nadine sah nachdenklich vor sich hin. „Er
kennt mich kaum und überhäuft mich mit Auf-
merksamkeiten." Ihre feinen Brauen schoben sich
unmutig zusammen. „Freilich, bei einem armen
Malermädel braucht man keine Rücksichten zu
nehmen."
„Dummes Zeug! Er behandelt Sie so ehr-

furchtsvoll, wie wenn Sie eine Prinzessin wären."
Lucy füllte die Suppe auf und hielt Nadine den
Teller hin.
Aber die schob ihn überdrüssig beiseite. „An-
gebrannt!" meinte sie lakonisch.
„Wieder einmal!" Lucy aß trotzdem. „Wie
war's denn in Ihrem Gipssaal?"
„Wie immer — schrecklich nüchtern, kalt und grau.
In der Ecke die Gerippe, auf den Borten die Weißen
Gipsglieder und die langweiligen klassischen Köpfe
mit ihrer entsetzlichen Regelmäßigkeit. Sie wissen
ja, wie ich das Zeichnen nach diesen Gipsabgüssen
verabscheue. Dazu die ironischen Blicke der Mit-
schüler! Alle grinsten mich schadenfroh an, weil ich
in ihre Klasse zurückkam."
Nadine stützte entmutigt den Kopf in die Hände.
Sie aß nichts.
„Wollen Sie verhungern?" schalt Lucy.
Nadine antwortete nicht.
„Jedenfalls bezahle ich meinen Anteil an dem
Wagen," sagte sie plötzlich unvermittelt. Sie zog
das Schubfach der Kommode auf und nahm ein
Zehnfrankenstück aus einer kleinen Pappschachtel.
„Es ist wahnsinnig, wenn man kaum Geld zum
Sattessen hat, ins Bois de Boulogne spazieren fahren
zu wollen," sagte sie dann mit leicht zitternder
Stimme. „Aber ich tue es trotzdem, ich muß ein-
mal hinaus — ich ersticke hier."
„Ja doch — Sie haben ganz recht!" begütigte
Lucy. — „So, der Tisch ist frei, wenn Sie arbeiten
wollen."


XXIN. 1S07-

vas neue Kurhaus in Wiesbaden. Nach einer Photographie von X. Schipper, hospholograph in Wiesbaden. (5. S05)
 
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