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heft 22
fürchte, Anne-Marie, Sie machen heute einen
dummen Streich."
Sie mußte über den humoristischen Seitenblick,
mit dem er sie musterte, lächeln. „Gehen Sie jetzt
nur ruhig nach Paris und studieren Sie dort, so
viel Sie wollen," bestimmte sie heiter. „Wenn Sie
wiederkommen, werden wir unsere Verlobung ver-
öffentlichen. Nur Ihre Eltern und unsere nächsten
Freunde sollen vorläufig darum wissen. Ich glaube,
wundern wird sich niemand. Alle werden diesen
Ausgang längst geahnt haben. Vor Jahrhunderten
sind die Güter Lehmin und Rettershof schon einmal
in einer Hand gewesen. Wie hübsch, daß es nun
noch einmal zusammenkommt!"
„Sehr hübsch!" bestätigte Georg mit angenom-
menem Ernst. „Wenn auch der Name Stechow
dadurch verschluckt wird — nur die Grafen Lehmin
beherrschen dann Rettershof."
„Das kommt darauf an! Graf Lehmin darf sich
nur der Gatte der Besitzerin und deren ältester Sohn
nennen. Die nachgeborenen Söhne behalten den
ursprünglichen Namen des Vaters. Rettershof
könnte ja getrennt von Lehmin stets dem zweiten
Sohn verbleiben."
Georg hätte am liebsten laut aufgelacht. Die
Gelassenheit, mit der Anne-Marie nicht nur ihre
und feine, sondern sogar schon die Zukunft etwaiger
Kinder erwog, belustigte ihn. „Alles behandelt sie
so geschäftsmäßig, wie wenn sie ein Rechtsanwalt
wäre!" dachte er. „Wenn ich auch nur etwas in
sie verliebt wäre, würde ich versuchen, diese Ge-
mütsruhe zu erschüttern. Aber in ihrem blonden
Kopf sitzen ja nur Zahlen, Butter-, Kornpreise und
derartiges. Ein Rechenexempel ist das ganze Mäd-
chen! Und dabei ist sie wirklich hübsch und stattlich."
Miß Fraser, die ihre „liebe Mary" ungern allein
ließ, erschien wieder mit der Mitteilung, daß das
Frühstück angerichtet sei.
„Georg bleibt hier," erklärte Anne-Marie. „Und
Ihnen wollen wir es anvertrauen, Fraserchen. Wir
werden uns verloben, sobald ich majorenn bin."
Miß Fraser nahm diese Ankündigung sehr ge-
lassen hin. Man merkte deutlich, daß zwischen ihr
und Anne-Marie schon oft davon die Rede gewesen
sein mußte. „Hoffentlich wird aber nicht gleich
darauf die Hochzeit sein?" meinte sie ängstlich.
„Marp ist ja noch viel zu jung."
Anne-Marie schob ihren Arm unter den ihrer
alten Erzieherin. „Georg will mich ja noch gar
nicht haben!" lachte sie. „Erst will er ein berühmter
Maler sein, nicht wahr?"
„Wenn auch das nicht, doch wenigstens kein
Dilettant mehr wie jetzt. Ich muß dann später
suchen, mir allein weiterzuhelfen. Ich kann ja auch
alljährlich einige Wochen nach Paris zu Olhardt
gehen, und der schickt mir zur Anregung gewiß gern
einen seiner besten Schüler her."
„Einen Maler — hierher?" Anne-Marie schien
nicht sehr entzückt von dieser Idee. „Sind denn
das Herren, die man bei sich im Hause haben kann?"
Der Eintritt des Dieners verhinderte die scharfe
Antwort, die auf Georgs Lippen schwebte.
In dem großen, durch die tiefen Nischen und
die dunkle Holztäfelung der Wände ein wenig
düsterem Eßzimmer wurde er wieder heiterer. Sein
schönheitliebendes Auge freute sich jedesmal an
diesem eigenartigen Raum, der vor langen Jahr-
hunderten der Speisesaal der Mönche gewesen sein
mußte. Er ließ seine Blicke von der prachtvollen
Stukkatur der Decke zu den weinroten Nischen mit
den schmalen, vergitterten Scheiben, gegen die die
losen Efeuranken schlugen, schweifen. Das monotone
behagliche Ticktack der alten Standuhr wiegte ihn
in eine träumerisch-wohlige Stimmung.
Sogar Anne-Marie erschien ihm augenblicklich
anziehend. Ihr blonder Kopf hob sich so hübsch
von dem dunklen Hintergrund der Holztäfelung ab!
Die Diener bedienten völlig geräuschlos den
breiten, runden Tisch, der mit alten Meißner Por-
zellanschalen voll weißer und goldgelber Krokus
geschmückt war.
Auf das Geplauder der Engländerin hörte er kaum
hin. Auch Anne-Maries Fragen beantwortete er
ein wenig kurz. Aber sie bemerkte seine Zerstreut-
heit entweder gar nicht, oder deutete auch sie wie-
der zu ihren Gunsten. Wahrscheinlich war Georg
benommen von dem Glück, znm ersten Male als er-
hörter Bewerber an diesem Tisch sitzen zu dürfen!
Sie unterließ es denn auch nicht, ihn bei dem ge-
meinsamen Spazierritt auf alle Vorzüge Lehmins auf-
merksam zu machen. Tie alten Waldbestände, die neuen
Schonungen, die soliden Bauernhäuser, massiven
Scheunen, die guten Äcker und ausgedehnten, frucht-
baren Wiesen—alles mußte er sehen und bewundern.
Sie hatte so viel zu erklären, zu zeigen, vorzuschlagen,
daß Georg kaum einige Worte einschalten konnte, und
Anne-Marie kam daher hochbefriedigt, einen so ge-
fügigen Gatten erwählt zu haben, nach Hause.
„Jetzt ziehe ich mich schnell um, damit wir nach
unserem kalten Ritt am Kamin Tee trinken können.
Zum Abendbrot willst du wohl wieder in Rettershof
bei den Eltern sein? Die erwarten dich gewiß schon
mit größter Ungeduld und Spannung."
Anne-Marie hatte bei dem Spazierritt das „Du"
aus früherer Zeit wie ganz selbstverständlich wieder
ausgenommen.
Mit ibrer soeben ausgesprochenen Vermutung
behielt sie recht; denn kaum war sie in einem sehr
einfach, aber schick gearbeiteten Weißen Tnchkleid,
das ihre volle Figur knapp umschloß, wieder her-
eingetreten, als unten bereits ein Wagen vorfuhr.
Georg sprang ans Fenster. „Wahrhaftig, die
Arche Noah aus Rettershof!" Sein Ton klang un-
angenehm überrascht. „Mama hat wahrscheinlich
Angst, daß ihr Söhnchen bei der Dunkelheit mit der
,Mairose' stürzen könnte. Und Papa kann natür-
lich seine Ungeduld nicht bezähmen."
Anne-Marie lächelte geschmeichelt. Sie stellte
schnell ihre Teetasse hin und ging dem alten Herrn
v. Stechow entgegen, der bereits im Hausflur mit
ausgebreiteten Armen auf sie zueilte. Frau
v. Stechow folgte langsamer. Sie hielt sich wie
verschüchtert etwas im Hintergrund. Ihr erster Blick
galt vor allem dem Sohn, was der wohl für ein
Gesicht mache.
Anne-Marie erwiderte die Umarmung des alten
Stechow herzlich. „Ja, Onkelchen — Georg und
ich sind vollkommen einig!" antwortete sie einfach
auf seine ihr schnell zugeflüsterte Frage.
Ten Alten überkam die Rührung. Mit einem
Arm immer noch Anne-Marie umschlungen haltend,
streckte er den anderen nach Georg aus.
Aber der wich zurück. „Keine Rührszene, Papa
— bitte!" sagte er.
„Na, ich werd' mich doch wohl freuen dürfen?"
ereiferte sich der Alte.
„Gewiß — wir sind alle sehr glücklich!" bestimmte
Anne-Marie ruhig.
Sie küßte Frau v. Stechow die Hand. Ihr
sonst immer allzu sicheres Auftreten wurde den alten
Leuten gegenüber liebevoll ehrerbietig. Es war
begreiflich, daß beide für sie schwärmten.
„Wie hübsch, daß ihr gekommen seid!" fuhr
Anne-Marie fort. Sie schob Frau v. Stechow rm
Salon den bequemsten Sessel ans hellflackernde
Kaminfeuer: „Nun können wir in aller Stille Ver-
lobung feiern. Außer uns braucht es vorläufig noch
niemand zu wissen."
„Ja, oas ist besser. Anne-Marie könnte doch
ihre Ansicht noch ändern," meinte Georg nachlässig.
„Oder du vielleicht die deine?" neckte sie und
stimmte herzlich in des alten Stechow lautes Lachen
ein. Auch nur eine Sekunde solche Möglichkeit für
derchbar zu halten, wäre der Erbin von Lehmin nie-
mals eingefallen.
„Ich habe dir einen Brief mitgebracht, der mit
der Mittagspost für dich ankam, Georg." Frau
v. Stechow kramte in ihrem seidenen Pompadour
herum.
„Laß doch den Wisch! Der hat Zeit bis nachher,"
verbot der alte Stechow. „Freu dich lieber an
unseren Kindern. Stellt euch mal zusammen —
so! — Donnerwetter, wirklich ein hübsches Paar!
Anne-Marie ist nur zwei Finger breit kleiner
wie Georg. Ein Staatsmädel! Junge, du hast ein
Glück! Wenn du die Anne-Marie nicht auf Händen
trägst, bekommst du's mit mir zu tun."
„Zeig' mal her den Brief, Mama!" bat Georg.
„Gestattest du, Anne-Marie?"
„Bitte!"
„Von wem ist denn das Schreiben, Georg?"
fragte Herr v. Stechow.
„Nicht einmal einen Brief kann ich bekommen,
ohne daß alle wissen müssen, woher und von wem
er stammt!" Georg lachte und las rasch. Tann
schob er den Brief in die Tasche.
„Das läßt du dir gefalleu, Anne-Marie?" neckte
der alte Stechow. „Vielleicht ist der Brief von
einer Dame!"
„Warum uicht!" Aune-Marie nickte Georg
gleichmütig freundlich zu.
„Diesmal nicht. Der Brief ist von Professor
Olhardt aus Paris." Georg strich liebkosend über
seine Tasche, in der das dünne ausländische Papier
leise knisterte.
„Was schreibt er denn?"
„Er hat in seiner Klasse einen Platz für mich
frei," antwortete Georg. „Am ersten April kann
ich zu ihm nach Paris kommen in sein Atelier."
Seine Brust dehnte sich. Er atmete tief auf. „Wie
ich mich freue!"
„Junge, bist dn toll! Du willst deine Brant
gleich wieder allein lassen? — Anne-Marie, red du
ihm den Blödsinn aus!"
„Warum? Wenn er doch so gerne noch etwas
malen lernen will! Georg interessiert sich nicht sehr
lebhaft für die Landwirtschaft. Da ist das Malen
ja eine ganz nette Beschäftigung für ihn," entgegnete
Anne-Marie kühl.
In Georgs Augen blitzte eine Sekunde ein ge-
reizter Blick auf. „Nicht wahr — es ist eine — ganz
nette Beschäftigung für mich! Hübsch ruhig, leidlich
sauber, macht keinen Lärm, und nicht viele Unkosten.
Nützt es nichts, so schadet es auch weiter nichts!"
„Habe ich dich verletzt?" Anne-Marie legte ihre
Hand auf seinen Arm. „Ich verstehe ja so wenig
vom Malen."
„Das scheint so. Na, schadet nichts! Wir werden
eben jeder unseren besonderen abgegrenzten Wir-
kungskreis haben. — Ich reise also Ende März,
Papa."
Der Ton klang sehr bestimmt.
„Gut —> wir fangen dann bald mit dem Umbau
des einen Flügels hier an. In etwa neun Monaten
kann alles fertig sein," antwortete Anne-Marie an
Stelle ihres Schwiegervaters. „Ich bin dann auch
majorenn und —"
„Und bald mein liebes Schwiegertöchterchen!"
fiel der alte Stechow selig ein.
„Ein Jahr muß ich mindestens bei Olhardt blei-
ben. Unter eineni Jahre nimmt der überhaupt keine
Schüler an," widersprach Georg.
„Der Farbenkleckser!" polterte Herr v. Stechow.
Anne-Marie zuckte gleichmütig die Achseln. „Mir
auch recht. Vor dem Frühjahr hätte die Hochzeit
doch wohl kaum gepaßt. — Bitte, Miß Fraser,
sorgen Sie, daß Rheinwein zum Abendbrot auf-
gesetzt wird. Und für Mamachen muß eine frische
Ananas aus dem Treibhaus geholt werden. Die
ißt sie am liebsten."
„Dn gutes Kind — an alles denkst du!" lobte
Frau v. Stechow gerührt.
„Das ist doch selbstverständlich. Es ist ja so schön
für mich, wieder Eltern zu bekommen!" Ein weicher,
liebevoller Blick traf Georg.
„Ich danke dir, Anne-Marie," antwortete er
herzlich. „Du machst uns allen viel Freude mit
diesen Worten."
Die letzte kleine Mißstimmung schien damit zu
verschwinden. Der Abend verging in ungestörter
Harmonie.
Die Seligkeit seiner Eltern — eine schwere Last
fiel dem alten Stechow mit dieser Verlobung vom
Herzen — freute Georg doch mehr, als er sich selbst
eingestand. Er wurde daher beim Abendbrot nach
jedem Glase des duftigen alten Rheinweins heiterer,
zuletzt förmlich ausgelassen lustig. Stimmungs-
mensch, der er war, gab er sich dem Genuß der
Stunde völlig hin. Der Wein funkelte goldig in
den grünen Römern. Die Wachslichter auf den
silbernen Kandelabern und in den verschnörkelten
Messinghaltern an den Wänden warfen ein Helles
und doch sanftes Licht über den mit Blumen reich
geschmückten Tisch. Er brachte einen huldigenden
Toast auf die blonde Herrin von Lehmin aus, launig,
galant, wie nur er es konnte.
Anne-Marie war sehr befriedigt, die Eltern
strahlten.
„Der Bengel ist berauscht vom Glück!" flüsterte
der alte Stechow Anne-Marie zu, die gnädig nickte.
Nur Miß Fraser saß als stille, aber sehr auf-
merksame Beobachterin am unteren Ende des
Tisches. Die plötzliche Ausgelassenheit des erst so
stocksteifen Bräutigams kam ihr verdächtig vor. „Die
anderen denken, er ist glücklich, weil er sich verlobt
hat — und dabei ist er es nur, weil er bald abreisen
kann! Arme Mary!" Miß Fraser wischte über ihre
trüb angelanfenen Brillengläser.
Anne-Marie nickte ihr freundlich zu. „Fraser-
chen — wir bleiben zusammen auf jeden Fall. Wir
trennen uns nicht. Ich lasse Sie nie von mir. —
Nicht wahr, Georg?"
„Niemals!" beteuerte der und legte pathetisch
die Hand aufs Herz. Er hatte kein Wort begriffen
von dem, was Anne-Marie sagte, weil er im stillen
fortwährend dachte: „Noch sechs Wochen — dann
gehe ich nach Paris!"
Drittes Kapitel. - - —
„Einen Sou, mein Herr — einen einzigen Sou!
Ich habe heute noch nichts gegessen!"
Mit bewunderungswürdiger Ausdauer schrie der
kleine Bursche diese Worte. Die nackten Füße
trabten hartnäckig neben Georg v. Stechow her, der
die Champs Elysees entlangschlenderte, ganz ver-
tieft in den Anblick des Pariser Straßenlebens.
Die Sonne warf lange goldene Streifen durch
die fächerartig ausgebreiteten Blätter der großen
Kastanien, welche die Promenade einfaßten, spielte
in zitternden Lichtern über die Reiter, Fußgänger,
Equipagen, eleganten weiß- oder rotlackierten Auto-
mobile, die in unabsehbarem Gewühl durcheinander-
drängten.
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fürchte, Anne-Marie, Sie machen heute einen
dummen Streich."
Sie mußte über den humoristischen Seitenblick,
mit dem er sie musterte, lächeln. „Gehen Sie jetzt
nur ruhig nach Paris und studieren Sie dort, so
viel Sie wollen," bestimmte sie heiter. „Wenn Sie
wiederkommen, werden wir unsere Verlobung ver-
öffentlichen. Nur Ihre Eltern und unsere nächsten
Freunde sollen vorläufig darum wissen. Ich glaube,
wundern wird sich niemand. Alle werden diesen
Ausgang längst geahnt haben. Vor Jahrhunderten
sind die Güter Lehmin und Rettershof schon einmal
in einer Hand gewesen. Wie hübsch, daß es nun
noch einmal zusammenkommt!"
„Sehr hübsch!" bestätigte Georg mit angenom-
menem Ernst. „Wenn auch der Name Stechow
dadurch verschluckt wird — nur die Grafen Lehmin
beherrschen dann Rettershof."
„Das kommt darauf an! Graf Lehmin darf sich
nur der Gatte der Besitzerin und deren ältester Sohn
nennen. Die nachgeborenen Söhne behalten den
ursprünglichen Namen des Vaters. Rettershof
könnte ja getrennt von Lehmin stets dem zweiten
Sohn verbleiben."
Georg hätte am liebsten laut aufgelacht. Die
Gelassenheit, mit der Anne-Marie nicht nur ihre
und feine, sondern sogar schon die Zukunft etwaiger
Kinder erwog, belustigte ihn. „Alles behandelt sie
so geschäftsmäßig, wie wenn sie ein Rechtsanwalt
wäre!" dachte er. „Wenn ich auch nur etwas in
sie verliebt wäre, würde ich versuchen, diese Ge-
mütsruhe zu erschüttern. Aber in ihrem blonden
Kopf sitzen ja nur Zahlen, Butter-, Kornpreise und
derartiges. Ein Rechenexempel ist das ganze Mäd-
chen! Und dabei ist sie wirklich hübsch und stattlich."
Miß Fraser, die ihre „liebe Mary" ungern allein
ließ, erschien wieder mit der Mitteilung, daß das
Frühstück angerichtet sei.
„Georg bleibt hier," erklärte Anne-Marie. „Und
Ihnen wollen wir es anvertrauen, Fraserchen. Wir
werden uns verloben, sobald ich majorenn bin."
Miß Fraser nahm diese Ankündigung sehr ge-
lassen hin. Man merkte deutlich, daß zwischen ihr
und Anne-Marie schon oft davon die Rede gewesen
sein mußte. „Hoffentlich wird aber nicht gleich
darauf die Hochzeit sein?" meinte sie ängstlich.
„Marp ist ja noch viel zu jung."
Anne-Marie schob ihren Arm unter den ihrer
alten Erzieherin. „Georg will mich ja noch gar
nicht haben!" lachte sie. „Erst will er ein berühmter
Maler sein, nicht wahr?"
„Wenn auch das nicht, doch wenigstens kein
Dilettant mehr wie jetzt. Ich muß dann später
suchen, mir allein weiterzuhelfen. Ich kann ja auch
alljährlich einige Wochen nach Paris zu Olhardt
gehen, und der schickt mir zur Anregung gewiß gern
einen seiner besten Schüler her."
„Einen Maler — hierher?" Anne-Marie schien
nicht sehr entzückt von dieser Idee. „Sind denn
das Herren, die man bei sich im Hause haben kann?"
Der Eintritt des Dieners verhinderte die scharfe
Antwort, die auf Georgs Lippen schwebte.
In dem großen, durch die tiefen Nischen und
die dunkle Holztäfelung der Wände ein wenig
düsterem Eßzimmer wurde er wieder heiterer. Sein
schönheitliebendes Auge freute sich jedesmal an
diesem eigenartigen Raum, der vor langen Jahr-
hunderten der Speisesaal der Mönche gewesen sein
mußte. Er ließ seine Blicke von der prachtvollen
Stukkatur der Decke zu den weinroten Nischen mit
den schmalen, vergitterten Scheiben, gegen die die
losen Efeuranken schlugen, schweifen. Das monotone
behagliche Ticktack der alten Standuhr wiegte ihn
in eine träumerisch-wohlige Stimmung.
Sogar Anne-Marie erschien ihm augenblicklich
anziehend. Ihr blonder Kopf hob sich so hübsch
von dem dunklen Hintergrund der Holztäfelung ab!
Die Diener bedienten völlig geräuschlos den
breiten, runden Tisch, der mit alten Meißner Por-
zellanschalen voll weißer und goldgelber Krokus
geschmückt war.
Auf das Geplauder der Engländerin hörte er kaum
hin. Auch Anne-Maries Fragen beantwortete er
ein wenig kurz. Aber sie bemerkte seine Zerstreut-
heit entweder gar nicht, oder deutete auch sie wie-
der zu ihren Gunsten. Wahrscheinlich war Georg
benommen von dem Glück, znm ersten Male als er-
hörter Bewerber an diesem Tisch sitzen zu dürfen!
Sie unterließ es denn auch nicht, ihn bei dem ge-
meinsamen Spazierritt auf alle Vorzüge Lehmins auf-
merksam zu machen. Tie alten Waldbestände, die neuen
Schonungen, die soliden Bauernhäuser, massiven
Scheunen, die guten Äcker und ausgedehnten, frucht-
baren Wiesen—alles mußte er sehen und bewundern.
Sie hatte so viel zu erklären, zu zeigen, vorzuschlagen,
daß Georg kaum einige Worte einschalten konnte, und
Anne-Marie kam daher hochbefriedigt, einen so ge-
fügigen Gatten erwählt zu haben, nach Hause.
„Jetzt ziehe ich mich schnell um, damit wir nach
unserem kalten Ritt am Kamin Tee trinken können.
Zum Abendbrot willst du wohl wieder in Rettershof
bei den Eltern sein? Die erwarten dich gewiß schon
mit größter Ungeduld und Spannung."
Anne-Marie hatte bei dem Spazierritt das „Du"
aus früherer Zeit wie ganz selbstverständlich wieder
ausgenommen.
Mit ibrer soeben ausgesprochenen Vermutung
behielt sie recht; denn kaum war sie in einem sehr
einfach, aber schick gearbeiteten Weißen Tnchkleid,
das ihre volle Figur knapp umschloß, wieder her-
eingetreten, als unten bereits ein Wagen vorfuhr.
Georg sprang ans Fenster. „Wahrhaftig, die
Arche Noah aus Rettershof!" Sein Ton klang un-
angenehm überrascht. „Mama hat wahrscheinlich
Angst, daß ihr Söhnchen bei der Dunkelheit mit der
,Mairose' stürzen könnte. Und Papa kann natür-
lich seine Ungeduld nicht bezähmen."
Anne-Marie lächelte geschmeichelt. Sie stellte
schnell ihre Teetasse hin und ging dem alten Herrn
v. Stechow entgegen, der bereits im Hausflur mit
ausgebreiteten Armen auf sie zueilte. Frau
v. Stechow folgte langsamer. Sie hielt sich wie
verschüchtert etwas im Hintergrund. Ihr erster Blick
galt vor allem dem Sohn, was der wohl für ein
Gesicht mache.
Anne-Marie erwiderte die Umarmung des alten
Stechow herzlich. „Ja, Onkelchen — Georg und
ich sind vollkommen einig!" antwortete sie einfach
auf seine ihr schnell zugeflüsterte Frage.
Ten Alten überkam die Rührung. Mit einem
Arm immer noch Anne-Marie umschlungen haltend,
streckte er den anderen nach Georg aus.
Aber der wich zurück. „Keine Rührszene, Papa
— bitte!" sagte er.
„Na, ich werd' mich doch wohl freuen dürfen?"
ereiferte sich der Alte.
„Gewiß — wir sind alle sehr glücklich!" bestimmte
Anne-Marie ruhig.
Sie küßte Frau v. Stechow die Hand. Ihr
sonst immer allzu sicheres Auftreten wurde den alten
Leuten gegenüber liebevoll ehrerbietig. Es war
begreiflich, daß beide für sie schwärmten.
„Wie hübsch, daß ihr gekommen seid!" fuhr
Anne-Marie fort. Sie schob Frau v. Stechow rm
Salon den bequemsten Sessel ans hellflackernde
Kaminfeuer: „Nun können wir in aller Stille Ver-
lobung feiern. Außer uns braucht es vorläufig noch
niemand zu wissen."
„Ja, oas ist besser. Anne-Marie könnte doch
ihre Ansicht noch ändern," meinte Georg nachlässig.
„Oder du vielleicht die deine?" neckte sie und
stimmte herzlich in des alten Stechow lautes Lachen
ein. Auch nur eine Sekunde solche Möglichkeit für
derchbar zu halten, wäre der Erbin von Lehmin nie-
mals eingefallen.
„Ich habe dir einen Brief mitgebracht, der mit
der Mittagspost für dich ankam, Georg." Frau
v. Stechow kramte in ihrem seidenen Pompadour
herum.
„Laß doch den Wisch! Der hat Zeit bis nachher,"
verbot der alte Stechow. „Freu dich lieber an
unseren Kindern. Stellt euch mal zusammen —
so! — Donnerwetter, wirklich ein hübsches Paar!
Anne-Marie ist nur zwei Finger breit kleiner
wie Georg. Ein Staatsmädel! Junge, du hast ein
Glück! Wenn du die Anne-Marie nicht auf Händen
trägst, bekommst du's mit mir zu tun."
„Zeig' mal her den Brief, Mama!" bat Georg.
„Gestattest du, Anne-Marie?"
„Bitte!"
„Von wem ist denn das Schreiben, Georg?"
fragte Herr v. Stechow.
„Nicht einmal einen Brief kann ich bekommen,
ohne daß alle wissen müssen, woher und von wem
er stammt!" Georg lachte und las rasch. Tann
schob er den Brief in die Tasche.
„Das läßt du dir gefalleu, Anne-Marie?" neckte
der alte Stechow. „Vielleicht ist der Brief von
einer Dame!"
„Warum uicht!" Aune-Marie nickte Georg
gleichmütig freundlich zu.
„Diesmal nicht. Der Brief ist von Professor
Olhardt aus Paris." Georg strich liebkosend über
seine Tasche, in der das dünne ausländische Papier
leise knisterte.
„Was schreibt er denn?"
„Er hat in seiner Klasse einen Platz für mich
frei," antwortete Georg. „Am ersten April kann
ich zu ihm nach Paris kommen in sein Atelier."
Seine Brust dehnte sich. Er atmete tief auf. „Wie
ich mich freue!"
„Junge, bist dn toll! Du willst deine Brant
gleich wieder allein lassen? — Anne-Marie, red du
ihm den Blödsinn aus!"
„Warum? Wenn er doch so gerne noch etwas
malen lernen will! Georg interessiert sich nicht sehr
lebhaft für die Landwirtschaft. Da ist das Malen
ja eine ganz nette Beschäftigung für ihn," entgegnete
Anne-Marie kühl.
In Georgs Augen blitzte eine Sekunde ein ge-
reizter Blick auf. „Nicht wahr — es ist eine — ganz
nette Beschäftigung für mich! Hübsch ruhig, leidlich
sauber, macht keinen Lärm, und nicht viele Unkosten.
Nützt es nichts, so schadet es auch weiter nichts!"
„Habe ich dich verletzt?" Anne-Marie legte ihre
Hand auf seinen Arm. „Ich verstehe ja so wenig
vom Malen."
„Das scheint so. Na, schadet nichts! Wir werden
eben jeder unseren besonderen abgegrenzten Wir-
kungskreis haben. — Ich reise also Ende März,
Papa."
Der Ton klang sehr bestimmt.
„Gut —> wir fangen dann bald mit dem Umbau
des einen Flügels hier an. In etwa neun Monaten
kann alles fertig sein," antwortete Anne-Marie an
Stelle ihres Schwiegervaters. „Ich bin dann auch
majorenn und —"
„Und bald mein liebes Schwiegertöchterchen!"
fiel der alte Stechow selig ein.
„Ein Jahr muß ich mindestens bei Olhardt blei-
ben. Unter eineni Jahre nimmt der überhaupt keine
Schüler an," widersprach Georg.
„Der Farbenkleckser!" polterte Herr v. Stechow.
Anne-Marie zuckte gleichmütig die Achseln. „Mir
auch recht. Vor dem Frühjahr hätte die Hochzeit
doch wohl kaum gepaßt. — Bitte, Miß Fraser,
sorgen Sie, daß Rheinwein zum Abendbrot auf-
gesetzt wird. Und für Mamachen muß eine frische
Ananas aus dem Treibhaus geholt werden. Die
ißt sie am liebsten."
„Dn gutes Kind — an alles denkst du!" lobte
Frau v. Stechow gerührt.
„Das ist doch selbstverständlich. Es ist ja so schön
für mich, wieder Eltern zu bekommen!" Ein weicher,
liebevoller Blick traf Georg.
„Ich danke dir, Anne-Marie," antwortete er
herzlich. „Du machst uns allen viel Freude mit
diesen Worten."
Die letzte kleine Mißstimmung schien damit zu
verschwinden. Der Abend verging in ungestörter
Harmonie.
Die Seligkeit seiner Eltern — eine schwere Last
fiel dem alten Stechow mit dieser Verlobung vom
Herzen — freute Georg doch mehr, als er sich selbst
eingestand. Er wurde daher beim Abendbrot nach
jedem Glase des duftigen alten Rheinweins heiterer,
zuletzt förmlich ausgelassen lustig. Stimmungs-
mensch, der er war, gab er sich dem Genuß der
Stunde völlig hin. Der Wein funkelte goldig in
den grünen Römern. Die Wachslichter auf den
silbernen Kandelabern und in den verschnörkelten
Messinghaltern an den Wänden warfen ein Helles
und doch sanftes Licht über den mit Blumen reich
geschmückten Tisch. Er brachte einen huldigenden
Toast auf die blonde Herrin von Lehmin aus, launig,
galant, wie nur er es konnte.
Anne-Marie war sehr befriedigt, die Eltern
strahlten.
„Der Bengel ist berauscht vom Glück!" flüsterte
der alte Stechow Anne-Marie zu, die gnädig nickte.
Nur Miß Fraser saß als stille, aber sehr auf-
merksame Beobachterin am unteren Ende des
Tisches. Die plötzliche Ausgelassenheit des erst so
stocksteifen Bräutigams kam ihr verdächtig vor. „Die
anderen denken, er ist glücklich, weil er sich verlobt
hat — und dabei ist er es nur, weil er bald abreisen
kann! Arme Mary!" Miß Fraser wischte über ihre
trüb angelanfenen Brillengläser.
Anne-Marie nickte ihr freundlich zu. „Fraser-
chen — wir bleiben zusammen auf jeden Fall. Wir
trennen uns nicht. Ich lasse Sie nie von mir. —
Nicht wahr, Georg?"
„Niemals!" beteuerte der und legte pathetisch
die Hand aufs Herz. Er hatte kein Wort begriffen
von dem, was Anne-Marie sagte, weil er im stillen
fortwährend dachte: „Noch sechs Wochen — dann
gehe ich nach Paris!"
Drittes Kapitel. - - —
„Einen Sou, mein Herr — einen einzigen Sou!
Ich habe heute noch nichts gegessen!"
Mit bewunderungswürdiger Ausdauer schrie der
kleine Bursche diese Worte. Die nackten Füße
trabten hartnäckig neben Georg v. Stechow her, der
die Champs Elysees entlangschlenderte, ganz ver-
tieft in den Anblick des Pariser Straßenlebens.
Die Sonne warf lange goldene Streifen durch
die fächerartig ausgebreiteten Blätter der großen
Kastanien, welche die Promenade einfaßten, spielte
in zitternden Lichtern über die Reiter, Fußgänger,
Equipagen, eleganten weiß- oder rotlackierten Auto-
mobile, die in unabsehbarem Gewühl durcheinander-
drängten.