Heft 22- - —
In zahllosen Reihen jagte das alles vorüber wie
Bilder eines Kaleidoskops. Dazwischen schrien die
Zeitungsverkäufcr, klingelten die Trambahnen in
den Nebenstraßen, tuteten die Fahrer der Auto-
mobile, und schrillten die Stimmen der Bcttelkindcr,
die Fliedersträuße oder lange Schnüre schwarzer
Schuhsenkel den Vorübergehenden anboten, meist
aber nur um einen Sou für Brot baten, und dabei
in ihre dunklen Schelmenaugen solchen flehenden
Blick zu legen wußten, daß man nur schwer wider-
stehen konnte.
„Was willst du eigentlich, du Quälgeist?" fragte
Georg endlich.
Die nackten Füßchen patschten immer noch neben
ihm her. Der Junge streckte begehrlich die Hände
aus.
„Da hast du zwei Sous! — Bist du nun zu-
frieden?"
„Danke, mein Herr — danke sehr!"
Der Kleine jagte sofort hinter einem anderen
Opfer her, das er ebenso kläglich und ausdauernd
anzubetteln begann.
Georg blieb stehen. In tiefen Atemzügen sog
er die weiche Frühlingsluft ein. Der Geruch des
Flieders, der in schweren Blütentrauben aus jedem
Karren und Korb der Blumenverkäufer heraushing,
lag förmlich in der Luft. Jauchzende Lebensfreude,
Genußsucht, Leichtsinn atmete ganz Paris an diesem
wundervollen Mainachmittage. Sogar die An-
bettelei bekam einen heiteren Anstrich.
Welch eine wunderbare Stadt das war -— dies
Paris! Zwei Städte in eine zusammengeschmiedet.
Tas alte historische Paris mit seinen großartigen
Königsbauten, seinen unerschöpflichen Kunstschätzen,
altersgrauen Kirchen, den einfach vornehmen Häu-
sern des alten Adels, stets zurückgebaut, von einem
Hof eng umschlossen, als wollten sie die Absicht ihrer
Bewohner andeuten, in stiller Zurückgezogenheit
nichts von der Außenwelt mehr zu sehen.
lind dagegen das moderne Paris, keck hinein-
gebaut in die große Vergangenheit mit einer neuen,
absonderlichen Kunstrichtung, raffiniertem Luxus,
der aber nie den guten Geschmack verletzte und die
unvergleichliche Schönheit der alten Stile wohl zu
schätzen wußte.
Nun gab es freilich noch ein drittes Paris: ein
armes, enges, dunkles, in dem die Revolutionen
ausgebrütet wurden, die einst das historische Paris
in das moderne umschufen; aber von dem mochte
Georg nichts wissen, dem ging er absichtlich aus
dem Wege. Er wollte Schönheit, Glanz, Frohsinn
um sich haben.
Er hatte sich darum auch nicht entschließen
können, in dem Quartier Latin, wo alle Kunstschüler
und Studenten wohnten, ein Zimmer zu mieten.
Obgleich das Quartier Latin durchaus nicht zu den
schlechten Gegenden von Paris gehört, waren ihm
da doch noch die Straßen zu eng und dunkel, die
Gerüche der vielen offenen Fleisch- und Käselüden
zu unangenehm. Gleich am Tage nach seiner Ankunft
zog er in den schönsten Teil von Paris, dicht bei
den Champs Elysees, in eine der Querstraßen, die
in das Bois de Boulogne münden. Am liebsten
wäre er heute noch weit in das Bois hineingebum-
melt. Wie wundervoll es dort war in dem Wäld-
chen mit den samtgrünen Rasenstrecken, den goldenen
Lichtern, die durch die Zweige der Eicheu und Buchen
fielen, den großen Seen, an deren Ufern Schwäne
und Enten nisteten! Aber er hatte keine Zeit mehr.
Er mußte umkehren und das Quartier Latin auf-
suchen, um in dem Atelier des Professors Olhardt
die erste Nachmittagsstunde in dessen Privatkursus
mitzumachen. Nur einige auserwählte Schüler und
Schülerinnen nahmen an diesem Nachmittagsunter-
richt teil.
Sogar feinen sparsamen Entschluß, die Straßen-
bahn zu benützen, konnte er nicht ausführen, son-
dern mußte schnell eine Droschke heranwinken.
So endeten übrigens meist seine Entschlüsse,
billig zu leben.
Warum sollte er auch ängstlich jeden Franken
umdrehen? Sein Vater hatte seine Reisekasse recht
gut ausgestattet und bezahlte gewiß gern nachher
ein paar tausend Franken, wenn es nicht reichen
sollte! Wenigstens dies eine Jahr der Freiheit wollte
er sich nicht verkümmern lassen.
Plötzlich glitt ein Schatten über sein eben noch
so heiteres Gesicht. Er dachte nicht gern an die
blonde Braut und die über seine Verlobung so glück-
lichen Eltern in seiner Heimat, der öden, sandigen
Mark, zurück. Briefe wechselte er nicht mit Anne-
Marie. Was sollten sie sich denn auch schreiben?
Er hätte wirklich nicht gewußt, womit er die Zeileu
ausfüllen könnte. Sie mußte sich mit den Briefen,
die er seiner Mutter schrieb, und einer ab und zu
gesandten Ansichtspostkarte begnügen, die sie mit
Grüßen durch seine Eltern erwiderte.
Anne-Marie wäre selbst sicher in Verlegenheit
— Vas Such sül- Mle —
gekommen, wenn sie hätte regelmäßig mit ihm korre-
spondieren müssen. Er interessierte sich ebensowenig
für die Ernteaussichten, Pferdekäufe und baulichen
Veränderungen in Lehmin, wie sie sich für die
Kunstschätze von Paris begeisterte. Tarin war ihre
Übereinstimmung jedenfalls eine vollkommene.
Der rasch dahinrollende Taxameter brachte ihn
bald in das jenseits der Seine liegende Quartier
Latin. Wie eng, wie düster war es hier im Ver-
gleich mit den breiten Straßen, den wundervollen
Plätzen, die er eben verlassen hatte! Hier ging jeder
seiner Arbeit nach.
Unwillkürlich zögerte Georg eine Sekunde, ehe
er die schmale, hohe Steintreppe erstieg, die zu dem
Atelier des Professors führte. Das Sounengold
blieb draußen, hier drinnen war es kühl, grau und
still.
Der Professor war noch nicht anwesend, aber
die Mitschüler und Mitschülerinnen fand Georg be-
reits sämtlich vor ihren Staffeleien stehend vor.
Alle drehten die Köpfe etwas erstaunt nach ihm
um. Dieser elegante junge Herr in dem tadellosen
Promenadenanzug, die weiße Fliederblüte im
Knopfloch, sah so ganz anders aus, wie alle anderen
hier drinnen!
Der Maler Maurice Roland pfiff durch die
Zähne. Dann kratzte er weiter an seiner Palette,
von der irgend eine hartnäckige Ölfarbe sich nicht
ablösen wollte.
Der neben ihm stehende Herr, ein großer, breit-
schultriger Mann, mit einem spitzgeschnittenen
blonden Bart und leuchtenden blauen Augen, grüßte
freundlicher. Aber auch er wandte seine Aufmerk-
samkeit sofort wieder dem Modell zu, das regungslos
in der vorgeschriebenen Haltung, etwas gebückt, die
Hände müde im Schoß zusammengelegt, dasaß. Es
war eine alte Frau mit scharfgeschnittenem Gesicht.
Das wirre graue Haar hing tief in die ganz von
Runzeln und Falten durchzogene Stirn. Die sehni-
gen Arme, die verarbeiteten Hände redeten eine
deutliche Sprache von der Not eines langen, sorgen-
vollen Lebens.
Von den zwei ebenfalls im Atelier arbeitenden
Damen sah Georg vorläufig nur die Rücken in langen
grauen Malkitteln und einen rötlichen und einen
braunen Haarknoten. Beide Malerinnen arbeiteten
so eifrig, daß sie kaum bei seinem Eintreten eine
Sekunde aufgesehen hatten.
Georg zog seine Maljacke über. Sein eleganter
Anzug genierte ihn auf einmal. Die Gleichgültig-
keit der anderen, die gar nichts auf seine Vorstellung
— er hatte bei seinem Eintritt seinen Namen ge-
nannt — erwiderten, reizte ihn ein wenig. Freilich,
wen konnte es hier in Paris, in diesem Kreise
interessieren, daß er Georg v. Stechow hieß, sein
Vater Rittergutsbesitzer in der Mark, er selbst bald
Großgrundbesitzer der Herrschaft Lehmin sein würde?
Hier galt nur das „Können", nicht der Name, nicht
der Besitz.
Ohne ein Wort weiter zu sagen oder zu fragen,
brachte er sein Malgerät in Ordnung und skizzierte
die Gestalt des Modells in knappen Zügen. Tas
glückte! Ohne auch nur einen Strich ändern zu
müssen, hob sich nach kurzer Zeit die müde zu-
sammengesunkene Gestalt der Alten plastisch von
seiner Leinwand ab.
Die übrigen, die schon länger gearbeitet hatten,
machten jetzt eine Pause. Roland trat ungeniert
hinter Georgs Staffelei, der ohne aufzusehen weiter
zeichnete.
Die Hände in den Hosentaschen versenkt, blieb
der Maler eine Zeitlang so stehen, dann nickte er
dem Blonden zu. „Sieh her, Norbert — das wird!"
Der Blonde, den Malstock über der Schulter,
kam auch heran. „Bravo!" sagte er nur.
Georg sreute das Lob der Mitschüler mehr, als
er sich selber eingesiehen wollte.
„Wir hätten's uns eigentlich denken können,"
fuhr Roland in halb entschuldigendem Tone fort.
„Der Professor nimmt keine Stutzer und Dilettanten
in seine Privatkurse. Aber weil Sie so im Wichs
hier hereinkamen, in solch eleganter Gegend wohnen,
waren wir mißtrauisch. Nicht wahr, Norbert?"
„Ja, und wir machen auch nicht viele Faxen
mit Vorstellungen," stimmte Norbert bei. „Wir
nennen uns, wie's grade kommt."
„Die Damen auch?" Georg trat ein paar
Schritte von seiner Staffelei zurück. So — jetzt
konnte er die Besitzerinnen des blonden und des
braunen Haarknotens genau sehen. Die Rotblonde
wandte ihm ein breites, mit vielen Sommersprossen
bedecktes Gesicht zu. Sie wischte ihre Hand an
der fleckigen Malschürze ab, ehe sie sie Georg treu-
herzig hinhielt.
„Lucy O'Reilly — von Geburt Schottin,"
sagte sie auf Deutsch mit etwas fremder Betonung.
„Hier kommt's übrigens auf die Nationalität nicht
an, wir sind alle Kinder einer Mutter, die Kunst ist
--—_ 47Y
unsere Heimat — nicht wahr? — Also sagen Sie
ruhig ,Lucy' zu mir, wie die anderen, und zer-
brechen Sie sich nicht Ihre Zunge an dem O'Reilly.
— Dies hier ist Nadine Holzinger."
Die Letztgenannte neigte grüßend den Köpf.
Sie gab Georg, der sich höflich vor ihr verbeugte,
nicht die Hand. Sie sah ihm nur eine Sekunde
erstaunt ins Gesicht, dann wandte sie ihre großen
dunklen Augen wieder ihrer Arbeit zu.
Georgs Blicke ließen ihre Gestalt, deren anmutige
Schlankheit selbst der formlose Kittel kaum verbarg,
nicht sogleich wieder los.
Welch ein Gesichtchen! Tie gerade Stirn, über
der das lockige braune Haar sich aufbauschte, die
feingezeichneten schwarzen Brauen, die großen
dunklen Augen, über die die sanft gebogenen Wim-
pern wie ein Schleier fielen, das feine, kurze Näs-
chen mit den leise zitternden Flügeln, der weiche
rote Mund, das feste, runde Kinn! Sein Künstler-
auge trank förmlich die zarte Schönheit dieses ent-
zückenden Gesichts.
Endlich riß er seine Blicke von ihr los und sah
auf ihre Arbeit.
Im ersten Moment erschrak er. Die Mängel
sprangen ihm förmlich in die Augen. Welch unsichere
Technik! Der eine Arm ganz verzeichnet, die Hal-
tung total verfehlt, die scharfen Züge der Alten
verflacht und verschwommen! Freilich befand sich
das Bild im allerungünstigsten Stadium; aber er
war ja kein Laie -— das hätte sein Urteil als Maler
nicht beeinflußt. Von dem verunglückten Gesicht,
dem miserablen Arm wegsehend, bemerkte er auf
einmal, wie wundervoll ein Streifen zitternden
Lichts gemalt war, den die Malerin aus den Hinter-
grund des Bildes geworfen. Wie fein spielten die
Sonnenstäubchen durcheinander, wie virtuos war
der Sonnensleck wiedergegeben, der breit auf der
geflickten Schürze der Alten lag!
Mit immer größerem Interesse sah er auf die
schmalen Hände der jungen Malerin, die, ganz ein-
genommen von ihrer Arbeit, ohne etwas anderes
zu sehen oder zu hören, immer wieder mit leichtem
Pinsel das gelbe, zitternde Licht in ihr verzeichnetes
Bild hineinstrich.
Erst der Eintritt des Professors ließ Georg auf-
fahren und sofort wieder vor der eigenen Staffelei
Stellung nehmen.
Professor Olhardt warf seinen weichen Filzhut
in die Ecke des Ateliers. Niemand durfte sein Kom-
men bemerken. Jeder arbeitete, ohne sich umzu-
schauen, weiter.
Olhardt stellte sich eine Zeitlang hinter jede
Staffelei und sah zu. Manchmal kritisierte er mit
ein paar kurzen, scharfen Worten, die stets den Nagel
auf den Köpf trafen. Nur selten nahm er den
Vinsel und arbeitete mit einigen Strichen in das
Bild hinein.
Georg war gespannt, was er zu Nadine Hol-
zingers Bild sagen würde.
So — jetzt stand der Professor vor der Staffelei
der jungen Malerin, die sofort etwas zur Seite trat.
Das Licht fiel scharf auf ihr im ganzen so verfehltes
und doch in einigen Einzelheiten so wundervolles
Bild.
Olhardt stieß einen merkwürdigen Ton aus —
halb Knurren, halb Lachen. Er nahm Nadine den
Malstock aus der Hand und zeigte auf den ver-
zeichneten Arm. „Eine richtige Sudelei!" sagte er
grob. „Lassen Sie sich Ihr Geld für Ihre Akt-
studien 'rauszahlen, mein Kind. Vor allem sagen
Sie nie, daß Sie bei mir Zeichnen gelernt haben,
das verkitt' ich mir!"
Georg biß sich auf die Lippen. Er konnte es
nicht lassen, die Getadelte anzusehen, obgleich es
ihm selbst taktlos vorkam. Denn die anderen sahen
alle wie auf Verabredung starr vor sich hin.
Es mochte vielleicht öfter vorkommen, daß Ol-
hardt so grob tadelte. Georg war dieser Ton einer
Dame gegenüber befremdend. Freilich, hier gab es
eigentlich keine Damen, sondern nur Schüler.
„Ich kann solche Modelle nicht malen!" stieß
Nadine plötzlich hervor. Ihr zart bräunliches Ge-
sicht glühte. Sic nagte an der Lippe.
„Solche Modelle?" Olhardt hielt den Malstock
immer noch auf den verzeichneten Arm gerichtet.
„In ganz Paris gibt's kein besseres Modell."
„Mag sein, aber nur liegt dies Genre nicht,"
beharrte die junge Malerin mutig.
„Ich weiß schon, was Ihnen liegt! So ein Still-
leben —, was? Ein Tonkrug mit drei weißen Nar-
zissen drin — und ein Sonnenstrahl, der auf irgend
emen blaßgrünen Samtlappen fällt! Oder, wenn's
schon ein Mensch sein muß: so ein glattes, weiß-
rosa Gesichtchen mit erstaunten blauen Augen und
einer Blume Hinterm Ohr — nicht wahr?"
„Gewiß. Etwas Junges, Schönes möchte ich
malen. Warum denn immer nur Altes, Krankes,
Häßliches? Die Kunst soll doch schön sein?"
In zahllosen Reihen jagte das alles vorüber wie
Bilder eines Kaleidoskops. Dazwischen schrien die
Zeitungsverkäufcr, klingelten die Trambahnen in
den Nebenstraßen, tuteten die Fahrer der Auto-
mobile, und schrillten die Stimmen der Bcttelkindcr,
die Fliedersträuße oder lange Schnüre schwarzer
Schuhsenkel den Vorübergehenden anboten, meist
aber nur um einen Sou für Brot baten, und dabei
in ihre dunklen Schelmenaugen solchen flehenden
Blick zu legen wußten, daß man nur schwer wider-
stehen konnte.
„Was willst du eigentlich, du Quälgeist?" fragte
Georg endlich.
Die nackten Füßchen patschten immer noch neben
ihm her. Der Junge streckte begehrlich die Hände
aus.
„Da hast du zwei Sous! — Bist du nun zu-
frieden?"
„Danke, mein Herr — danke sehr!"
Der Kleine jagte sofort hinter einem anderen
Opfer her, das er ebenso kläglich und ausdauernd
anzubetteln begann.
Georg blieb stehen. In tiefen Atemzügen sog
er die weiche Frühlingsluft ein. Der Geruch des
Flieders, der in schweren Blütentrauben aus jedem
Karren und Korb der Blumenverkäufer heraushing,
lag förmlich in der Luft. Jauchzende Lebensfreude,
Genußsucht, Leichtsinn atmete ganz Paris an diesem
wundervollen Mainachmittage. Sogar die An-
bettelei bekam einen heiteren Anstrich.
Welch eine wunderbare Stadt das war -— dies
Paris! Zwei Städte in eine zusammengeschmiedet.
Tas alte historische Paris mit seinen großartigen
Königsbauten, seinen unerschöpflichen Kunstschätzen,
altersgrauen Kirchen, den einfach vornehmen Häu-
sern des alten Adels, stets zurückgebaut, von einem
Hof eng umschlossen, als wollten sie die Absicht ihrer
Bewohner andeuten, in stiller Zurückgezogenheit
nichts von der Außenwelt mehr zu sehen.
lind dagegen das moderne Paris, keck hinein-
gebaut in die große Vergangenheit mit einer neuen,
absonderlichen Kunstrichtung, raffiniertem Luxus,
der aber nie den guten Geschmack verletzte und die
unvergleichliche Schönheit der alten Stile wohl zu
schätzen wußte.
Nun gab es freilich noch ein drittes Paris: ein
armes, enges, dunkles, in dem die Revolutionen
ausgebrütet wurden, die einst das historische Paris
in das moderne umschufen; aber von dem mochte
Georg nichts wissen, dem ging er absichtlich aus
dem Wege. Er wollte Schönheit, Glanz, Frohsinn
um sich haben.
Er hatte sich darum auch nicht entschließen
können, in dem Quartier Latin, wo alle Kunstschüler
und Studenten wohnten, ein Zimmer zu mieten.
Obgleich das Quartier Latin durchaus nicht zu den
schlechten Gegenden von Paris gehört, waren ihm
da doch noch die Straßen zu eng und dunkel, die
Gerüche der vielen offenen Fleisch- und Käselüden
zu unangenehm. Gleich am Tage nach seiner Ankunft
zog er in den schönsten Teil von Paris, dicht bei
den Champs Elysees, in eine der Querstraßen, die
in das Bois de Boulogne münden. Am liebsten
wäre er heute noch weit in das Bois hineingebum-
melt. Wie wundervoll es dort war in dem Wäld-
chen mit den samtgrünen Rasenstrecken, den goldenen
Lichtern, die durch die Zweige der Eicheu und Buchen
fielen, den großen Seen, an deren Ufern Schwäne
und Enten nisteten! Aber er hatte keine Zeit mehr.
Er mußte umkehren und das Quartier Latin auf-
suchen, um in dem Atelier des Professors Olhardt
die erste Nachmittagsstunde in dessen Privatkursus
mitzumachen. Nur einige auserwählte Schüler und
Schülerinnen nahmen an diesem Nachmittagsunter-
richt teil.
Sogar feinen sparsamen Entschluß, die Straßen-
bahn zu benützen, konnte er nicht ausführen, son-
dern mußte schnell eine Droschke heranwinken.
So endeten übrigens meist seine Entschlüsse,
billig zu leben.
Warum sollte er auch ängstlich jeden Franken
umdrehen? Sein Vater hatte seine Reisekasse recht
gut ausgestattet und bezahlte gewiß gern nachher
ein paar tausend Franken, wenn es nicht reichen
sollte! Wenigstens dies eine Jahr der Freiheit wollte
er sich nicht verkümmern lassen.
Plötzlich glitt ein Schatten über sein eben noch
so heiteres Gesicht. Er dachte nicht gern an die
blonde Braut und die über seine Verlobung so glück-
lichen Eltern in seiner Heimat, der öden, sandigen
Mark, zurück. Briefe wechselte er nicht mit Anne-
Marie. Was sollten sie sich denn auch schreiben?
Er hätte wirklich nicht gewußt, womit er die Zeileu
ausfüllen könnte. Sie mußte sich mit den Briefen,
die er seiner Mutter schrieb, und einer ab und zu
gesandten Ansichtspostkarte begnügen, die sie mit
Grüßen durch seine Eltern erwiderte.
Anne-Marie wäre selbst sicher in Verlegenheit
— Vas Such sül- Mle —
gekommen, wenn sie hätte regelmäßig mit ihm korre-
spondieren müssen. Er interessierte sich ebensowenig
für die Ernteaussichten, Pferdekäufe und baulichen
Veränderungen in Lehmin, wie sie sich für die
Kunstschätze von Paris begeisterte. Tarin war ihre
Übereinstimmung jedenfalls eine vollkommene.
Der rasch dahinrollende Taxameter brachte ihn
bald in das jenseits der Seine liegende Quartier
Latin. Wie eng, wie düster war es hier im Ver-
gleich mit den breiten Straßen, den wundervollen
Plätzen, die er eben verlassen hatte! Hier ging jeder
seiner Arbeit nach.
Unwillkürlich zögerte Georg eine Sekunde, ehe
er die schmale, hohe Steintreppe erstieg, die zu dem
Atelier des Professors führte. Das Sounengold
blieb draußen, hier drinnen war es kühl, grau und
still.
Der Professor war noch nicht anwesend, aber
die Mitschüler und Mitschülerinnen fand Georg be-
reits sämtlich vor ihren Staffeleien stehend vor.
Alle drehten die Köpfe etwas erstaunt nach ihm
um. Dieser elegante junge Herr in dem tadellosen
Promenadenanzug, die weiße Fliederblüte im
Knopfloch, sah so ganz anders aus, wie alle anderen
hier drinnen!
Der Maler Maurice Roland pfiff durch die
Zähne. Dann kratzte er weiter an seiner Palette,
von der irgend eine hartnäckige Ölfarbe sich nicht
ablösen wollte.
Der neben ihm stehende Herr, ein großer, breit-
schultriger Mann, mit einem spitzgeschnittenen
blonden Bart und leuchtenden blauen Augen, grüßte
freundlicher. Aber auch er wandte seine Aufmerk-
samkeit sofort wieder dem Modell zu, das regungslos
in der vorgeschriebenen Haltung, etwas gebückt, die
Hände müde im Schoß zusammengelegt, dasaß. Es
war eine alte Frau mit scharfgeschnittenem Gesicht.
Das wirre graue Haar hing tief in die ganz von
Runzeln und Falten durchzogene Stirn. Die sehni-
gen Arme, die verarbeiteten Hände redeten eine
deutliche Sprache von der Not eines langen, sorgen-
vollen Lebens.
Von den zwei ebenfalls im Atelier arbeitenden
Damen sah Georg vorläufig nur die Rücken in langen
grauen Malkitteln und einen rötlichen und einen
braunen Haarknoten. Beide Malerinnen arbeiteten
so eifrig, daß sie kaum bei seinem Eintreten eine
Sekunde aufgesehen hatten.
Georg zog seine Maljacke über. Sein eleganter
Anzug genierte ihn auf einmal. Die Gleichgültig-
keit der anderen, die gar nichts auf seine Vorstellung
— er hatte bei seinem Eintritt seinen Namen ge-
nannt — erwiderten, reizte ihn ein wenig. Freilich,
wen konnte es hier in Paris, in diesem Kreise
interessieren, daß er Georg v. Stechow hieß, sein
Vater Rittergutsbesitzer in der Mark, er selbst bald
Großgrundbesitzer der Herrschaft Lehmin sein würde?
Hier galt nur das „Können", nicht der Name, nicht
der Besitz.
Ohne ein Wort weiter zu sagen oder zu fragen,
brachte er sein Malgerät in Ordnung und skizzierte
die Gestalt des Modells in knappen Zügen. Tas
glückte! Ohne auch nur einen Strich ändern zu
müssen, hob sich nach kurzer Zeit die müde zu-
sammengesunkene Gestalt der Alten plastisch von
seiner Leinwand ab.
Die übrigen, die schon länger gearbeitet hatten,
machten jetzt eine Pause. Roland trat ungeniert
hinter Georgs Staffelei, der ohne aufzusehen weiter
zeichnete.
Die Hände in den Hosentaschen versenkt, blieb
der Maler eine Zeitlang so stehen, dann nickte er
dem Blonden zu. „Sieh her, Norbert — das wird!"
Der Blonde, den Malstock über der Schulter,
kam auch heran. „Bravo!" sagte er nur.
Georg sreute das Lob der Mitschüler mehr, als
er sich selber eingesiehen wollte.
„Wir hätten's uns eigentlich denken können,"
fuhr Roland in halb entschuldigendem Tone fort.
„Der Professor nimmt keine Stutzer und Dilettanten
in seine Privatkurse. Aber weil Sie so im Wichs
hier hereinkamen, in solch eleganter Gegend wohnen,
waren wir mißtrauisch. Nicht wahr, Norbert?"
„Ja, und wir machen auch nicht viele Faxen
mit Vorstellungen," stimmte Norbert bei. „Wir
nennen uns, wie's grade kommt."
„Die Damen auch?" Georg trat ein paar
Schritte von seiner Staffelei zurück. So — jetzt
konnte er die Besitzerinnen des blonden und des
braunen Haarknotens genau sehen. Die Rotblonde
wandte ihm ein breites, mit vielen Sommersprossen
bedecktes Gesicht zu. Sie wischte ihre Hand an
der fleckigen Malschürze ab, ehe sie sie Georg treu-
herzig hinhielt.
„Lucy O'Reilly — von Geburt Schottin,"
sagte sie auf Deutsch mit etwas fremder Betonung.
„Hier kommt's übrigens auf die Nationalität nicht
an, wir sind alle Kinder einer Mutter, die Kunst ist
--—_ 47Y
unsere Heimat — nicht wahr? — Also sagen Sie
ruhig ,Lucy' zu mir, wie die anderen, und zer-
brechen Sie sich nicht Ihre Zunge an dem O'Reilly.
— Dies hier ist Nadine Holzinger."
Die Letztgenannte neigte grüßend den Köpf.
Sie gab Georg, der sich höflich vor ihr verbeugte,
nicht die Hand. Sie sah ihm nur eine Sekunde
erstaunt ins Gesicht, dann wandte sie ihre großen
dunklen Augen wieder ihrer Arbeit zu.
Georgs Blicke ließen ihre Gestalt, deren anmutige
Schlankheit selbst der formlose Kittel kaum verbarg,
nicht sogleich wieder los.
Welch ein Gesichtchen! Tie gerade Stirn, über
der das lockige braune Haar sich aufbauschte, die
feingezeichneten schwarzen Brauen, die großen
dunklen Augen, über die die sanft gebogenen Wim-
pern wie ein Schleier fielen, das feine, kurze Näs-
chen mit den leise zitternden Flügeln, der weiche
rote Mund, das feste, runde Kinn! Sein Künstler-
auge trank förmlich die zarte Schönheit dieses ent-
zückenden Gesichts.
Endlich riß er seine Blicke von ihr los und sah
auf ihre Arbeit.
Im ersten Moment erschrak er. Die Mängel
sprangen ihm förmlich in die Augen. Welch unsichere
Technik! Der eine Arm ganz verzeichnet, die Hal-
tung total verfehlt, die scharfen Züge der Alten
verflacht und verschwommen! Freilich befand sich
das Bild im allerungünstigsten Stadium; aber er
war ja kein Laie -— das hätte sein Urteil als Maler
nicht beeinflußt. Von dem verunglückten Gesicht,
dem miserablen Arm wegsehend, bemerkte er auf
einmal, wie wundervoll ein Streifen zitternden
Lichts gemalt war, den die Malerin aus den Hinter-
grund des Bildes geworfen. Wie fein spielten die
Sonnenstäubchen durcheinander, wie virtuos war
der Sonnensleck wiedergegeben, der breit auf der
geflickten Schürze der Alten lag!
Mit immer größerem Interesse sah er auf die
schmalen Hände der jungen Malerin, die, ganz ein-
genommen von ihrer Arbeit, ohne etwas anderes
zu sehen oder zu hören, immer wieder mit leichtem
Pinsel das gelbe, zitternde Licht in ihr verzeichnetes
Bild hineinstrich.
Erst der Eintritt des Professors ließ Georg auf-
fahren und sofort wieder vor der eigenen Staffelei
Stellung nehmen.
Professor Olhardt warf seinen weichen Filzhut
in die Ecke des Ateliers. Niemand durfte sein Kom-
men bemerken. Jeder arbeitete, ohne sich umzu-
schauen, weiter.
Olhardt stellte sich eine Zeitlang hinter jede
Staffelei und sah zu. Manchmal kritisierte er mit
ein paar kurzen, scharfen Worten, die stets den Nagel
auf den Köpf trafen. Nur selten nahm er den
Vinsel und arbeitete mit einigen Strichen in das
Bild hinein.
Georg war gespannt, was er zu Nadine Hol-
zingers Bild sagen würde.
So — jetzt stand der Professor vor der Staffelei
der jungen Malerin, die sofort etwas zur Seite trat.
Das Licht fiel scharf auf ihr im ganzen so verfehltes
und doch in einigen Einzelheiten so wundervolles
Bild.
Olhardt stieß einen merkwürdigen Ton aus —
halb Knurren, halb Lachen. Er nahm Nadine den
Malstock aus der Hand und zeigte auf den ver-
zeichneten Arm. „Eine richtige Sudelei!" sagte er
grob. „Lassen Sie sich Ihr Geld für Ihre Akt-
studien 'rauszahlen, mein Kind. Vor allem sagen
Sie nie, daß Sie bei mir Zeichnen gelernt haben,
das verkitt' ich mir!"
Georg biß sich auf die Lippen. Er konnte es
nicht lassen, die Getadelte anzusehen, obgleich es
ihm selbst taktlos vorkam. Denn die anderen sahen
alle wie auf Verabredung starr vor sich hin.
Es mochte vielleicht öfter vorkommen, daß Ol-
hardt so grob tadelte. Georg war dieser Ton einer
Dame gegenüber befremdend. Freilich, hier gab es
eigentlich keine Damen, sondern nur Schüler.
„Ich kann solche Modelle nicht malen!" stieß
Nadine plötzlich hervor. Ihr zart bräunliches Ge-
sicht glühte. Sic nagte an der Lippe.
„Solche Modelle?" Olhardt hielt den Malstock
immer noch auf den verzeichneten Arm gerichtet.
„In ganz Paris gibt's kein besseres Modell."
„Mag sein, aber nur liegt dies Genre nicht,"
beharrte die junge Malerin mutig.
„Ich weiß schon, was Ihnen liegt! So ein Still-
leben —, was? Ein Tonkrug mit drei weißen Nar-
zissen drin — und ein Sonnenstrahl, der auf irgend
emen blaßgrünen Samtlappen fällt! Oder, wenn's
schon ein Mensch sein muß: so ein glattes, weiß-
rosa Gesichtchen mit erstaunten blauen Augen und
einer Blume Hinterm Ohr — nicht wahr?"
„Gewiß. Etwas Junges, Schönes möchte ich
malen. Warum denn immer nur Altes, Krankes,
Häßliches? Die Kunst soll doch schön sein?"