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iooo bis ijoo—eine Epoche des Umbruchs

»Über dem Hegau lag ein trüber bleischwerer Himmel, doch war von der Finsternis, die
bekanntlich über dem ganzen Mittelalter lastete, im einzelnen nichts wahrzunehmen.« So
spottete schon vor anderthalb Jahrhunderten Joseph Viktor von Scheffel in den ersten
Sätzen des 1857 erschienenen Ekkehard über das Klischee vom vermeintlich dunklen Mittel-
alter-leider erfolglos, denn das Klischee hat sich als sehr zählebig erwiesen. Dabei steht die
moderne Geschichtswissenschaft eindeutig auf der Seite des kritischen Literaten, denn das
Bild jener Epoche, das sie in den letzten Jahrzehnten immer detaillierter zeichnet, spiegelt
keineswegs eine bedrückende Kombination von Barbarei und Stagnation, sondern - min-
destens bis um 1300 - ganz im Gegenteil eine Phase des dynamischen Um- und Aufbruchs.

Ganz fraglos erscheinen dem heutigen Betrachter viele Züge mittelalterlicher Realität
erschreckend primitiv: die Allgegcnwart von Gewalt, auch im politischen Geschehen, die
Vorherrschaft von Unwissenheit und Intoleranz, das Fehlen heute selbstverständlicher
Freiheitsrechte, der geringe Standard der Wirtschaft, die schwere Belastung der meisten
Menschen im Alltag, Hunger und Elend. Dennoch führt der allzu direkte Vergleich mit
dem Heute in die Irre: Der vorwärts weisenden Elemente beraubt, muß letztlich jede
Vergangenheit als eine »Finsternis« erscheinen, die man lieber schnell für überwunden
erklärt, anstatt sich um ihr Verständnis zu bemühen. Daß man durch solche Ausblendung
des Vergangenen zugleich das Verständnis der eigenen Zeit, ihrer Vorgeschichte, ihrer
rückwärts gewandten und ihrer vorwärts weisenden Elemente verfehlen muß, ist eine
uralte, aber keineswegs allgemein begriffene Wahrheit.

Die Epoche, in der die Adelsburg in ihrer klassischen, noch heute jedermann bewußten
Form entsteht-die Jahrhunderte von 1000 bis 1300-war in vielfacher Hinsicht ein Zeitalter
dynamischer Entwicklung, vergleichbar etwa der Renaissance und auch unserer eigenen
Zeit mit ihren »industriellen Revolutionen«. Die Fortschritte der Technik im 1 t. bis [3.
Jahrhundert, die vor allem in Frankreich und England erforscht und dargestellt wurden,
sind auch tatsächlich schon unter der Überschrift Die industrielle Revolution des Mittelalters'
zusammengefaßt worden, die diese Beziehung zur Gegenwart auf einer populären Ebene
akzentuiert. Dieses neue Bild des Mittelalters geht jedoch auf jahrzehntelange seriöse
Forschung zurück. Auch einer der bekanntesten Mediävisten unserer Zeit, J. lcGoff, hat
wiederholt das hohe Mittelalter - das »zweite Feudalzeitalter« Marc Blochs - als eine Zeit
des »takc-off« bezeichnet, wobei schon die Wortwahl die althergebrachten Klischees ver-
meiden und eine moderne, analytische Betrachtungsweise anregen will.2 Und auch die
deutsche Mediävistik, die derart griffige Darstellungen meist mit kritischer Distanz
betrachtet, hat neuerdings bereits die Zeit der Salier (1024-1125) explizit als eine
»Umbruchszeit« bezeichnet.' Was ist es, das solch bemerkenswerte Akzentsetzungen recht-
fertigt? Nur an einer Stelle werde ich die Entwicklungen bis ins Detail nachzuzeichnen
versuchen: dort nämlich, wo es um die Bauherren und Bewohner der Burgen, d.h. den Adel

' Gimpel, Revolution.

2 LcGoff, Hochmittclalter (darin auch zu den meisten Themen dieses Abschnitts).
1 Weinfiirter, Herrschaft.
 
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