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Biller, Thomas
Die Adelsburg in Deutschland: Entstehung, Form und Bedeutung — München, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.4980#0046
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II. Wandlungen des Adels im Ii. bis 13. Jahrhundert

im weitesten Sinne geht. Jedoch sei vorab das Gesamtbild der Epoche kurz skizziert, so wie
die Forschung es heute erkennen läßt.

Wie wohl jede beschleunigte Entwicklungsphase der menschlichen Geschichte brach
auch jene des 11. bis 13. Jahrhunderts nicht voraussetzungslos herein, sondern ist eher Teil
und Höhepunkt einer langen Entwicklung auf vielen verschiedenen Ebenen, die zu einem
nicht berechenbaren Zeitpunkt starker »ins Rutschen kam«. Schon deshalb darf man nicht
erwarten, daß das Neue der Zeit im Sinne exakter Jahreszahlen oder gar statistischer Daten
festgelegt werden kann. Macht man sich nämlich den Charakter der mittelalterlichen
Quellen klar, die an nichts weniger interessiert waren als an der Analyse und Darlegung
gesamtgesellschaftlicher oder ökonomischer »Megatrends« — wie man heute sagen würde —
so ist auch verständlich, daß eine kausal lückenlos vernetzte und absolut chronologische
Darstellung unerreichbar bleiben muß. Wohl aber können »Indizien« vorgelegt und in
Zusammenhänge gesetzt werden, so daß die dynamischen Elemente der Zeit erkennbar
werden.

In der Geschichtsforschung längst anerkannt ist die erhebliche Ausweitung der agrarisch
genutzten bzw. besiedelten Fläche im Mittelalter, die Kolonisation, die nach dem vielleicht
häufigsten Verfahren - dem Abholzen von Wald - oft unter dem Stichwort »Rodung«
behandelt wird.4 Unter den Begriff fällt dabei nicht nur die Erschließung von Waldregionen
am Rande des von altersher besiedelten Gebietes, etwa auch um neue Höhenburgen herum,
sondern auch so bedeutende Vorhaben wie die »Ostkolonisation« umfassen die Erschlie-
ßung großer Waldregionen für eine effektivere Landwirtschaft als grundlegenden Aspekt.
Man muß dabei bedenken, daß die Landwirtschaft im Mittelalter nicht die heutige dienende
Rolle für die Industrie und einen ständig wachsenden Dienstleistungssektor spielte, sondern
daß sie damals das absolute Zentrum des wirtschaftlichen Geschehens darstellte, wo im
Frühmittelalter weit über 90 % der Bevölkerung die Lebensmittel und fast alle Rohstoffe
produzierten. Die Folgewirkung wachsender landwirtschaftlicher Nutzflächen ist daher
weit höher einzuschätzen, als sie es heute wäre - und zwar besonders für den Adel, der von
der landwirtschaftlichen Produktion auf seinen Ländereien lebte, kaum aber von den erst
neu entstehenden Formen städtischer Wirtschaft bzw. bürgerlichen Handels.

Eine wichtige Grundlage für die Erweiterung der Siedlungsflächc war fraglos das erhebli-
che Wachstum der Bevölkerung. Dieser Trend wurde erst durch die Wiederkehr der Pest im
mittleren 14. Jahrhundert unterbrochen, als es entsprechend zu ausgedehnten »Wüstun-
gen«, d.h. dem Verschwinden von vielen Städten und Dörfern kam. Im Früh- und Hoch-
mittelalter aber, zwischen etwa 900 und 1300, wuchs die Bevölkerungszahl Europas erheb-
lich an, nach einer der vorliegenden Schätzungen - es gibt verschiedene, die aber nur in den
Zahlen differieren, nicht in der Tatsache selbst - von 42 Millionen auf 73 Millionen, d.h. um
über 70 %!5 Diese Erkenntnis, die vor allem auf französischem und englischem Material
beruht - Deutschland entwickelte sich vermutlich langsamer - gewinnt noch an Interesse,
wenn man ergänzt, daß der größte Wachstumsschub zwischen etwa 1150 und 1300 lag, d.h.
in der Zeit, die auch den quantitativen und qualitativen Höhepunkt in der Entwicklung des
deutschen Burgenbaues darstellt.

Die verbesserte Nutzung des Landes und seiner Ressourcen beruht aber nicht nur auf
einer wachsenden Zahl von Arbeitskräften, sondern auch auf neuen landwirtschaftlichen

* Horn, Entwicklung, 3SIT., mit Literatur.

5 G. Grupe, Umwelt und Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, in: Mensch und Umwelt, S. 24-34,
mit Literatur.
 
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