Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bergner, Heinrich [Editor]
Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen (Band 24): Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Naumburg — Halle a. d. S., 1903

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.25507#0158
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Naumburg. Dom. Bildwerke (Das Tympanon).

129

Wunder! Denn dem flüchtigen Beschauer macht es den Eindruck eines an
sich bescheidenen und durch Verwitterung ganz entstellten Werkes. Bei näherer
Prüfung erhebt es sich zu ganz einzigartiger Bedeutung nicht nur für das Ver-
ständnis des Künstlers und seiner Arbeitsweise, sondern auch für die Bau-
geschichte des Domes und schließlich der Bildnerei des Mittelalters überhaupt.
Denn wir haben hier die letzte Arbeit unseres großen Plastikers, die er halb-
fertig zurückließ und die eine spätere Zeit pietätvoll bewahrte. Wir können
ihm also förmlich bei seiner Arbeit über die Schultern schauen und alle Stadien
des plastischen Vorgangs beobachten. Das Tympanon ist mit dem Türsturz aus
einem Block, die Bildfläche 104 cm breit, 75 cm hoch.

Christus sitzt ruhig und streng frontal auf einer niedrigen Bank, die
Rechte mit der Wunde segnend erhoben, während er mit der Linken das auf-
geschnittene Kleid öffnet, um die Seitenwunde zu zeigen. Der große, schöne
Kopf ist von langem Wellenhaar umgeben, welches gescheitelt, mit den drei
bezeichnenden kurzgeschnittenen Strähnen auf der Stirn und seitlich zurück-
gestrichen ist. Die Stirn ist breit und niedrig, die Brauen grätig, die Oberlider
voll gegen die Schläfen' gezogen, die Augen groß und klar aufgeschlagen,
darunter die typischen Tränensäckchen. Schon diese Partie schließt jeden Zweifel
an der Urheberschaft aus. Die Nase ist gerade und edel, doch die Spitze ab-
gebrochen, die Wangen fallen etwas ein, der Bart um Lippen und Kinn ist voll,
kurz und in wenige breite Strähnen geteilt. Ein Blick auf den Christus des
Lettners, etwa im Abendmahl, überzeugt uns, daß wir hier nicht nur denselben
Typus, nein das Bildnis des Heilands haben, wie es dem Künstler porträtmäßig
feststand. Der Mantel fällt von der rechten Schulter in einer Querfalte auf den
linken Oberschenkel, ein Zipfel über den linken Arm, und hüllt in klassisch ein-
fachen Zügen die Knie ein, welche freilich ganz unnatürlich kurze Füße unter
sich haben. Maria kniet in betender Haltung links, ganz in den Mantel gehüllt,
welcher über den Kopf und mit den Zipfeln über die Hände gezogen ist. Der
Kopf, von dickem Wellenhaar umgeben, ist aufwärts zum Herrn gewandt und
zeigt in scharfem Profil ein hartes Frauengesicht wie das der Gepa, wesentlich
durch die kurze gedrückte Nase, die breite Ober- und die vorhängende Unter-
lippe bestimmt. Doch versöhnt der flehende Aufschlag der Augen. Johannes
kniet ebenso rechts, die Hände unter einem Tuche verhüllt, das zart aufwärts
gewandte Gesicht von einem dicken Lockenkranz umgeben. Das ist also eben-
falls der Weltrichter, aber in schlicht menschlicher Erscheinung ohne symbolisches
Beiwerk, zwischen den Fürbittern Maria und Johannes d. Täufer, der byzanti-
nischen Deesis entsprechend, welche seit den Kreuzzügen im Abendland eindringt.

Da der Künstler von links nach rechts arbeitete, haben wir auf der rechten
Seite den ersten Zustand, welchen das Werkstück vielleicht schon in der Hütte
erhielt, in welchem es versetzt wurde. Der Hintergrund ist gespitzt. Johannes
erscheint nur in allgemeinen Umrissen, welche ungefähr die Glieder und Falten
erkennen lassen, und das ist mit dem Spitzeisen „grob gestockt.“ Die Meißel-
schläge sind dicht aneinandergesetzt und haben di® ganze Figur mit tiefen
runden Löchern bedeckt, was so lebhaft an vorgeschrittene Verwitterung erinnert.
Augen und Nase, dann der Mantel und die Arme Christi zeigen den zweiten
Zustand. Sie sind gezahnt, d. h. mit einem Meißel von zwei oder drei Zähnen

Kreia Naumburg. 9
 
Annotationen