Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Boisserée, Sulpiz
Denkmale der Baukunst vom 7. bis zum 13. Jahrhundert am Nieder-Rhein — München, 1833

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.1178#0013
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der Kreuzgaiig an der Marionkirehc wurde im 10|L'" Jahrhundert gebaut, wie aus dem Testament
des 9G5 verstorbenen Erzbischofs Bruno hervorgeht. Dieser Herr vermachte nämlich durch dasselbe hundert
Pjnüid zur Vollendung des Kreiizgungcs und der Klostcrgebäude. " Der Kreuzgang besteht noch, von den
Klostcrgebäuden über ist nichts mehr erhalten. Walirscheinlicli wohnten die Stiftsdamen zu aller Zeit in
Gemeinschaft; später bis 1802, ivo das Stift aufgehoben wurde, hatten sie abgesonderte Wohnungen; diese
Ingen um den Kreuzgang herum, in welchem sich die Thüren dazu befanden.

Ich mache zuletzt auf die Gruft unter dem Chor aufmerksam, dieselbe ist, wie man sieht, sehr
geräumig. Die Sitte, bei grosseren Kirchen eine Gruft unter dem Chor zum Andenken an die ersten Zeiten
des Christenthums anzubringen, in denen die Gläubigen zu Rom sich bei den Gräbern des Märtyrer in
den Katakomben versammelten, war von Allers hör bis zum 13,e11 Jahrhundert fast: allgemein. Die Gruft
war eine eigene unterirdische Kirche mit einem oder mehreren Altären, wo man an gewissen Tagen in den
frühesten Morgenstunden oder auch hei Nacht Gottesdienst hielt. So wurde besonders am Fest der Geburt
Christi die erste Messe tun Mitternacht gewöhnlich in der Gruft gefeiert. In der unterirdischen Kirche von St.
Marien finden sich an den Gewölben noch Spuren von allen Frescomalcreicn, welche mit dem Gebäude
gleichzeitig zu seyn scheinen, aber zu sehr erloschen sind, um darüber ein bestimmtes Unheil fällen zu
können.

Befrachtet man nun die Marienkirche im Ganzen, (wobei ich nur vorübergehend bemerke, dass die
Verzierung der unteren Fenster und die durchbrochene Einfassung des Chors, welche der Zeichner beibehalten
hat, Zusätze aus der letztem Zeit der spitzbogigen Bauart sind,) so wird man sich überzeugen, dass dieses
Gebäude noch einen vollkommenen Begriff von dem Zustande der Kirchenbaukunst im 7lc« Jahrhundert giebt.
Man wiid darin denEiufliiss der Basiliken und der runden Kirchengebäude in Rom undRavenna aus dem l[cnund
5(c" Jahrhundert zugleich aber auch die Veränderungen bemerken, welche seitdem erfolgten. Das Kuppelgewölbe
über dem Kreuz und die Stellung der Halbkiinpcln auf freistellende Säulen ist, wiewohl auf cigciithümliche
"Weise, jenen Rtmdgcbäuden nachgebildet, und so ist: die Rundung des Chors offenbar von den Basiliken
entlehnt. Dahingegen erkennt mau in der Verlängerung des Chors und in der Wiederholung der Rundung
oder Halbkuppel an den beiden Enden des Querschiffs eine entschiedene Entwickelurig der Kreuzgestalt:,
welche in den älteren Basiliken entweder gar nicht oder unvollständig vorhanden is(, und in letzten» Fäll
hauptsächlich nur aus dem Bcdürfniss, den Raum in der Nähe des Altars zu vergrössern, entstanden zu
seyn scheint. Was die Verhältnisse der Hauplanlage betrifft, so sieht man, dass die ganze innere Breite
der Marienkirche sich zur Länge derselben wie 1 zu 3 verhält, während bei den älteren Basiliken mit drei
oder fünf Schilfen dieses Vcrhältniss meist wie 1 zu 2 ist. Eine ähnliche Verschiedenheit findet sich in
dem Verhältniss der lichten Breite des Hauptschiffs zur Höhe des grossen Bogcns über den Pfeilern; in
St. Marien ist dieses wie 1 zu 2, in den meisten alteren Basiliken wie 1 zu Vfi.'> Es zeigt sich also schon
jenes Bestreben, die Höhe vorherrschen zu lassen, welches in der Folge in der Kirchenbaukunst immer mehr
hervortrat. Eine andere wesentliche Verschiedenheit besteht darin, dass alle Schilfe der Marienkirche
gewölbt sind, da bei den italienischen Basiliken nur die Chorrondimg gewölbt ist, die Schiffe aber eine
flache Decke oder blosses Gebälk haben. Die Ausführung so grosser Gewölbe beweist übrigens, dass in
den verderblichen Zeiten der Völkerwanderung und der darauf folgenden Spaltungen des fränkischen Reichs
die von den Römern erlernte Kunst zu wölben nicht verloren gegangen war.

Wenn nun von der einen Seite die Basiliken und andere italienische Gebäude einen bedeutenden
Einfluss auf die Marienkirche hatten, so wirkte von der andern Seite eben diese Kirche noch viel mehr auf
die Gebäude, die in den nächstfolgenden Jahrhunderten am Rhein aufgeführt wurden; diese aber dienten

' Gelruiiis, Preeiosn Hiu-utliccn [>. 00.

> Man vergleiche: Guteiuoin und Knapp, Sammlung ilor Sites
 
Annotationen