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Bunsen, Marie von
John Ruskin: sein Leben und sein Wirken; eine kritische Studie — Leipzig: Seemann, 1903

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https://doi.org/10.11588/diglit.66337#0030
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Ruskin

dern auch sein schwer zu übertreibendes Verdienst.
Dies mag paradox klingen, ist aber, glaube ich, voll-
ständig zutreffend. Man muss nur den Geschmack
der grossen, auch hochgebildeten Masse kennen, ins-
besondere des Englands jener Zeit. Ruskin’s Haupt-
einfluss, natürlich auf die kleinen, wichtigen Kreise
— wenn die Massen folgen, hat eine Richtung sich
innerlich überlebt — fällt in die fünfziger und sechs-
ziger Jahre. Es war im mittleren Viktorianischen Zeit-
alter, man war in England moralischer als jemals vor-
oder nachher, interessierte sich leidenschaftlich für
religiös-ethische Fragen, man war aber nebenher auch
überaus vernünftig, liberal und manchesterlich ge-
sonnen. Ganz zweifellos geschah es unbewusst, ge-
schickter hätte Ruskin jedoch keinen Hebel anwenden
können, als indem er die religiös-ethische Saite mächtig
erklingen liess, auch war es der günstigste Moment,
um den herrschenden philiströsen Ungeschmack grell
zu beleuchten.
Karl Hillebrand erwähnt einmal, um Reformations-
geschichte zu verstehen, müsse man sich im modernen
England aufhalten; nirgendwo spielten heutzutage reli-
giöse, von der Politik losgelöste Fragen so leiden-
schaftlich in das Alltagsleben so vieler, auch der Ge-
bildetsten herein. Der Durchschnitts-Engländer, nicht
der Schotte, hat wenig metaphysische Neigung, desto-
mehr interessiert ihn fassbare Ethik. Dass Kunst und
Religion eins, dass Beschäftigung mit Malerei (der
Engländer huldigt einem ebenso naiven als akuten
Kunstdilettantismus) eine hohe und edle Aufgabe sei,
dies alles war ausserordentlich einleuchtend und er-
freulich. Ruskin’s stimulierender Einfluss auf das all-
gemeine Kunstinteresse lässt sich kaum überschätzen,
ist im ganzen förderlich gewesen, und, ich wiederhole
 
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