Kunstbegriffe und Kunstmaxime 23
es, ohne diese ethisch-religiöse Begründung wäre der
Erfolg unendlich geringer gewesen. Eine zündende
Viertelwahrheit wirkt mehr als eine volle Wahrheit, an
der die Massen teilnahmlos vorübergehen.
IV.
Kunstbegriffe und Kunstmaxime.
Immer handelt es sich um die engbegrenzte Kunst,
welche Ruskin kennt und versteht.
Seine künstlerische Erweckung fand im Sommer
1845 in Lucca statt; er war sechsundzwanzig Jahre
alt, hatte bereits ein kunstgeschichtliches Werk, den
ersten Band der „Modern Painters“ veröffentlicht.
Was Rom und Florenz ihm gewesen, ist bereits an-
gedeutet worden; nicht nur unwissend, auch un-
empfänglich schien er zu sein. Da streift ein Sonnen-
schein den schlummernden Keim. Er steht vor
Quercia’s Denkmal der jungen Patrizierin, der Ilaria
di Caretto.
„Wenige kennen noch lieben das Grab und den Ort,
aber keine Göttinnenstatue der griechischen Länder, kein
Nonnenbildnis apenninischer Klöster, kein erträumtes Engels-
licht aus der himmlischen Heimat steht göttlich höher in der
Menschheit Gedanken.“
Nach diesen Luccatagen waren seine Kunst-
ansichten gefestigt, er selber sagt es (Pr. II 169) und
gewiss wahrheitsgemäss; was er sonst Neues hinzu-
lernte, wurde in das fertige System hineingezwängt.
Hier und in Florenz hat er nun gewissenhaft an
der italienischen früh-mittelalterlichen Kunst gearbeitet
es, ohne diese ethisch-religiöse Begründung wäre der
Erfolg unendlich geringer gewesen. Eine zündende
Viertelwahrheit wirkt mehr als eine volle Wahrheit, an
der die Massen teilnahmlos vorübergehen.
IV.
Kunstbegriffe und Kunstmaxime.
Immer handelt es sich um die engbegrenzte Kunst,
welche Ruskin kennt und versteht.
Seine künstlerische Erweckung fand im Sommer
1845 in Lucca statt; er war sechsundzwanzig Jahre
alt, hatte bereits ein kunstgeschichtliches Werk, den
ersten Band der „Modern Painters“ veröffentlicht.
Was Rom und Florenz ihm gewesen, ist bereits an-
gedeutet worden; nicht nur unwissend, auch un-
empfänglich schien er zu sein. Da streift ein Sonnen-
schein den schlummernden Keim. Er steht vor
Quercia’s Denkmal der jungen Patrizierin, der Ilaria
di Caretto.
„Wenige kennen noch lieben das Grab und den Ort,
aber keine Göttinnenstatue der griechischen Länder, kein
Nonnenbildnis apenninischer Klöster, kein erträumtes Engels-
licht aus der himmlischen Heimat steht göttlich höher in der
Menschheit Gedanken.“
Nach diesen Luccatagen waren seine Kunst-
ansichten gefestigt, er selber sagt es (Pr. II 169) und
gewiss wahrheitsgemäss; was er sonst Neues hinzu-
lernte, wurde in das fertige System hineingezwängt.
Hier und in Florenz hat er nun gewissenhaft an
der italienischen früh-mittelalterlichen Kunst gearbeitet