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Gerhard, Eduard
Programm zum Winckelmannsfeste der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin (Band 10): Mykenische Alterthümer — Berlin, 1850

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https://doi.org/10.11588/diglit.693#0007
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mit Thierfüfsen auch in der Vorderansicht versehen, übrigens aber in dieser Vorder-
ansicht mit. jungfräulichem Haupt und Oberleib, wie auch mit menschlichen Armen
gebildet, die mit beredter Geberde vorgestreckt sind. Die Brust der Jungfrau ist nach
dorischer Frauensitte mit einem ärmellosen Gewand bedeckt; weiter abwärts ist über
dasselbe ein, ihr auch sonst beigegebenes (23), Fell geschlagen, durch welches der
Uebergang zur Thiergestalt züchtig verdeckt wird. Blick und Züge des langgelockten
Angesichts sind edel und würdig, dergestalt dafs die darüber hervorragenden Hörner
eher das Ansehn phantastischen Schmuckes ihm gewähren, als thierische Verwilde-
rung zeigen: dieses um so mehr, als um die über beiden Schläfen entspriefsenden
Kuhhörner ein breites Stirnband, königliche Abkunft oder auch Priestertracht be-
zeichnend, gewunden ist und mit seinen langen, ohne Zweifel farbig zu denkenden,
Enden den ganzen Frauenleib, wenigstens dessen Unke Seite (24), überdeckt. Der
hiedurch bethätigten Absicht des Künstlers kommen verzierungsweise, zwischen den
beiden Kuhhörnern mitten inne, noch zwei hochragende Ziegenhörner zu statten,
welche wir, nach aller uns gegebenen Kenntnifs des Mythos und Kunstgebrauchs, für
eine zwar keinesweges bedeutungslose, aber doch äufserst seltsame verzierende Zu-
that zu erkennen haben (25).

Fassen wir diese wundersame Gestalt nach Betrachtung ihrer Besonderheiten
nun nochmals ins Auge, um eins und das andere Ergebnifs allgemeinen Bezugs ihr
abzugewinnen, so ist zuvörderst der künstlerische Werth nicht zu verkennen, der in
geschickter Verbindung menschlicher und thierischer Formen, mehr als die verwandten
Bildungen des Kentaurenkörpers und selbst der zunächst vergleichbaren Sphinxe es
uns zu zeigen pflegen, hier sich kundgibt. Wir werden nächstdem durch den reichen
Kopfschmuck unserer lo gedrungen der Bedeutung weiter nachzugehn, welche die
von ihren Hörnern lang herabhangende breite Binde etwa haben mag: für eine Kö-
nigsbinde ungewöhnlich lang, als priesterlicher Schmuck statt der in ähnlichen Fällen
üblicheren Bekränzung (26) unerwartet, mag doch wohl diese letztere Bedeutung ge-

einziges Hora ist auf einer Coghillschen Vase (pl. XLVI) ihr gegeben. Ueber gehörnte Frauenköpfe,
deren Deutung zwischen lo und Kora schwankt, vgL Arch. Zeitung VI. S. 98* f. 102*.

(23) Wenn anders ein unter den Terracotten des königl. Museums No. 169 befindlicher gehörnter Frauenkopf,
um dessen Hals ein Fell geknüpft ist, gleichfalls der lo gehört.

(24) Kechterseits sind die Enden abgebrochen. Daß Hörner, nicht Ohren, hier umbunden sind, liegt am Tage.

(25) Eine Erklärung dieser Ziegenhörner scheint aus der weiter unWn (Anm. 67) berührten engen Begriffs-
verwandtschaft der ältesten Hera mit Artemis hervorzugehn; für die gemischte Thierbildung aber wüfsten
wir nur die Ungethüme des Orients, aus römischer Sculptur etwa die gehörnten Pantherthiere zu ver-
gleichen, die man gemeinhin Chimären nennt.

(26) So erscheint die Pallaspriesterin auf Kassandrabildern bald mit schmucklosem Haar (Arch. Z. VI, 13, 6),
bald mit einem Stirnband ohne herabhangende Enden (ebd. 14, 1. Vgl. 15, 1).
 
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