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selbstbewußt, gesättigt, sich freuend der Machtfülle und des Reichthums, die ihm
gegeben sind. Wie paßt zu solchem die gothische Kirche? Sie führt ja in ihren
tausend Gliedern überall empor zu einer höheren Welt und predigt, daß hienieden
noch nicht erschienen ist, was wir sein werden. Wie das Auge an allen Säulen
in ihren schlanken Schäften emporeilt, wie es immer höher und höher geführt wird,
so ist offenbar der Zweck des Stiles, den Menschen von der streitenden Kirche hie-
nieden emporzuführen zu der ewig triumphirenden Gemeinde. Hingegen der romanische
Stil rundet sich überall ab und seine Erhebung schließt sich wieder in sich selbst
zusammen. In den schönen gerundeten Formen erhält das Auge die Befriedigung
am Diesseits. Es ist der Stil, der die Fülle der Kirche Gottes aus Erden preist.
Wir setzen keinen Stil auf Kosten des andern herab; wir sagen: jeder dieser
beiden hat seine Wahrheit. Die Kirche ist einerseits schon selig hier aus Erden,
denn des Geistes Gaben wohnen in ihr; sie ist aber andrerseits doch nur selig in
Hoffnung, und so strebt sie über sich hinaus. Im Gruude kann es daher auch
keine weiteren Stilarten für die christliche Kirche geben, denn im Wesentlichen muß
immer das Eine oder Andere besonders ausgesprochen werden. Daraus aber ist es
erklärlich, wie ein deutsches Gemüth sich immer vorzugsweise am gothischen Stile
erfreuen wird, während der Südländer sich mehr an romanischen Bauten ergötzt;
der gothische Stil ist ein reiner Ausdruck des sehnsuchtreichen deutschen Gemüthes.
Demnach können wir auch den Satz nicht theilen: der Volksgeist drängte zur
Befreiung des Wandgemäldes und der Miniatur von ihren gothischen Fesseln. Be-
zeichnend ist schon dieß, daß, wie der Verfasser selbst zugesteht, die ersten eigentlichen
deutschen Malerschulen in der Mitte des 14. Jahrh. sich bildeten, wo die Technik
bedeutende Fortschritte machte. Das war ja aber gerade die Blüthezeit der Gothik.
Wir müssen demnach sagen: als der deutsche Geist in seinen gewaltigen gothischen
Bauten sich regte, da hat er auch sich aus dem mehr unbedeutenden und hand-
werksmäßigen Malen zu dem künstlerischen Malen erhoben. Es ist derselbe innere
Trieb des mächtigen Geistesdranges, der in die Kirchenbaukunst den idealen, himmel-
anstrebenden Zug hineinlcgte und die gewaltigen architektonischen Formen gleichsam
wie mächtige Pinselstriche handhabte, der auch zu einer höheren, idealeren Malerei
getrieben hat. Der glänzende und in vieler Hinsicht staunenswerthe Anfang der
deutschen Malerei verdankt seinen Ursprung demselben Geiste, der seine gothischen
Dome geschaffen hat.
Wir verkennen allerdings nicht die Wahrheit der Bemerkung Thausing's, daß
das Streben nach Natnrwahrheit gleichen Schritt hält mit dem Verfalle der Gothik,
obgleich wir nicht von einem abstrakten gothischen Formbegriff reden möchten. That-
süchlich ist es ferner allerdings, daß die Gothik und die tektonischen Künste in den
Bedingungen ihres wechselseitigen Gedeihens im ungeraden Verhältnis; stehen, nicht
als läge das freilich in der Natur der Dinge, sondern es liegt in der menschlichen
Einseitigkeit und Beschränktheit. Es wird eben keinem Geschlechte Alles gegeben.
Jene Zeit rang nach der Ausprägung des Idealen, Heiligen, göttlich Verklärten.
Gewiß, sie hat Großes darin geleistet. Wer fühlte sich nicht mächtig nngezogen
durch jene herrlichen, engelreinen, sittigen und keuschen Gestalten, welche die Maler
jener Zeit geschaffen haben. Gewiß, das muß eine fromme Zeit und müssen fromme
 
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