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Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule u. Haus — 50.1908

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Nr. 5 (Mai 1908)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44122#0185
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prophetischen Verhältnis zu einer starken Philosophie" findet, die an Goethe zu
rühmen ist. Solcher prophetischer Zug der Poesie zur wahren Philosophie könnte
allein ein hochgehendes Urteil über die „Thekla" rechtfertigen.
Dann die weitere Folgerung. Wenn die weltgeschichtliche Form des Reiches
Gottes, die Volkskirche nicht nur das religiöse, sondern auch das rechtliche, sitt-
liche und ästhetische Kulturleben umfaßt, so hat das christliche Prinzip
auch die gesamte Kultur zu durch drin gen. Zwar waren Staat,
Kommune, Kunst und Wissetischaft und das soziale Leben schon vor dem Christen-
tum ausgebildet und zu einer relativen Vollendung gelangt. Aber jetzt gilt es,
daß die Kultur „sich nicht im Widerspruch mit dem christlichen Prinzip, sondern
im Einklang mit demselben zu entwickeln habe, die ganze Kultur also eine
christliche sein soll oder, soweit sie es nicht ist, werden oder wieder werden soll".
Wenn nun aber tatsächlich unchristliche und antichristliche Mächte zur Geltung
kommen, die das Christentum als abgemachte Sache, als eine Art Unbildung
preisgeben, so ergibt sich die Frage, „ob die Kultur ohne das Christen-
tum und ob das Christentum ohne Kultur und Fortschritt der
Kultur bestehen kann." Wiehern verneint beides. Von der Ueber-
zengnng durchdrungen, daß ein kulturloses Christentum nie eine Macht in der
Welt wird, wird er nicht müde, auf der andern Seite die einer religionslosen
Kultur drohende Gefahr der Verarmung und Verflachung zu betonen. Er kann
nicht die Kunst zum Kultus erheben wie Richard Wagner, der von zwei
Göttern spreche, die die Welt beherrschen, Apollo und Christus, doch weiche
der letztere dem ersteren. Für nns Protestanten, die wir an die Einheit der
göttlichen Schöpfungs- und Heilsstiftung wie an die Einheit des lebendigen Gottes
glauben, kann das Ziel des gegenwärtigen Kampfes zwischen Kultur und Christen-
tum kein anderes sein als „die Ausscheidung des Widerchristlichen in der Kultur
und die Durchbildung des christlichen Prinzips und ebenso auch Vollendung
und Verklärung des Menschenlebens und der Menschenarbeit nach allen Seiten
hin durch das segnende und heiligende Reich Gottes". Jeder einzelne kann mit
den idealen Kräften des Gottesreichs kraft seines Anteils am allgemeinen könig-
lichen Priestertum der Christeu das Kulturleben zu erfassen und an seinem Teil
zu vollenden suchen, uni dadurch der Kultur zu der Erkenntnis zu verhelfen,
daß sie nur durch das Walten des göttlichen Geistes das werden kann, ivas sie
eigentlich sein will und sein soll. „Wie ein Thorwaldsen, ein Rietschel, ein
Rauch, ein Schinkel, ein Overbeck, ein Cornelius, ein Schnorr und noch so
manche andere und neben ihnen ein Schnaase, jeder in seiner Weise, ans dem
idealen Gebiet dem Evangelium wieder Bahn gebrochen haben", so wird es
überall für den Nichtgeistlichen darauf ankommen, „im Familienleben, in allen
Berufsarten, in Wissenschaft, Kunst und Literatur das, was in der gegebenen
oder erreichbaren Sphäre von christlichem Leben lind sittlicher Lebensgestaltung
vorhanden ist, zu schützen, zu wahren und fortzubilden rind störende Gegensätze
in der Macht der Wahrheit und im Geist der Liebe zu überwinden". — Dem
von einem engherzigen Pietismus gepflegten kulturlosen Christentum stellt Wichern
die Neberzeugung entgegen, daß das nationale Leben der Völker eine göttliche
 
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