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Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule u. Haus — 55.1913

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Nr. 11 (November 1913)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44561#0432
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Christliches Kunstblatt für Rirche, Zchule und Haus
Nr. l l

und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit derselben eins aus-
zumachen." „Kus einem Sklaven der Natur, so lang er sie bloß empfindet, wird
der Mensch ihr Gesetzgeber, so bald er sie denkt", d. h. „er behauptet nicht
nur seine Selbständigkeit gegen die Natur als Erscheinung, sondern er behauptet
auch gegen die Natur als Macht seine Würde und mit edler Freiheit richtet er
sich auf gegen seine Götter." Mit diesen drei Gedankenreihen schildert Schiller
die Entwicklung vom physischen zum ästhetischen und zum moralischen Menschen.
Vieser ästhetische Stand des Menschen bleibt aber bei Schiller nicht ein bloßes
Zwischenglied, sondern wird unter der Hand des Dichters, der über den Philo-
sophen und Ästhetiker hinauswächst, etwas Selbständiges. Daß diese Welt des
Schönen für Schiller nicht etwas im Wesen der menschlichen Entwicklung vor-
übergehendes ist, mögen folgende Sätze erhärten:
„5lber indem ich bloß einen Nusgang aus der materiellen Welt und einen
Übergang in die Geisterwelt suchte, hat mich der freie Lauf meiner Einbildungs-
kraft schon mitten in die letztere hineingeführt. Die Schönheit, die wir suchen,
liegt bereits hinter uns und wir haben sie übersprungen, indem wir von dem
bloßen Leben unmittelbar zu der reinen Gestalt und zu dem reinen Objekt über-
gingen. Lin solcher Sprung ist nicht in der menschlichen Natur, und um gleichen
Schritt mit dieser zu halten, werden wir zu der Sinnenwelt wieder umkehren
müssen. Die Schönheit ist allerdings das Werk der freien Betrachtung und wir
treten mit ihr in die Welt der Ideen — aber, was wohl zu bemerken ist, ohne darum
die sinnliche Welt zu verlassen, wie bei Erkenntnis der Wahrheit geschieht. Die
menschliche Entwicklung von der physischen zur moralischen Person geschieht also
nicht durch einen Sprung, sondern durch ein außerordentlich wertvolles Element:
durch die Schönheit, die zugleich unser Leiden und unsere Tat ist." Diese Schönheit
ist eigentlich die Befreierin des Menschen dadurch, daß ihre Wurzeln ins Neich
der Natur und ihre Zweige ins Neich des Geistes ragen, wenn das Bild möglich
ist bei den Worten: „Weil die Schönheit beides ist, Zustand und Tat, so dient
sie uns zu einem siegenden Beweis, daß das Leiden die Tätigkeit, daß die
Materie die Horm, daß die Beschränkung die Unendlichkeit keineswegs aus-
schließe, - daß mithin durch die notwendige physische Nbhängigkeit des Menschen
seine moralische Freiheit keineswegs aufgehoben werde. — Sie beweist es und
ich muß hinzusetzen, sie allein kann es uns beweisen." Das Dasein der Schönheit
ist also geradezu Beweismittel für seine moralische Freiheit, trotz deren empirischer
Gebundenheit auch an physische Zustände. Za noch mehr: Da beim Genuß der
Schönheit oder der ästhetischen Einheit Materie mit der Form, Leiden mit Tätig-
keit, also physisches und Geistiges sich verbinden, so beweist gerade diese ästhetische
Vereinigung des naturhaften und geistigen Elements im Menschen die „Nus-
führbarkeit des Unendlichen im Endlichen, mithin die Möglichkeit der er-
habensten Menschheit."
Der braucht also, um sich als Geist zu erweisen, der Materie nicht zu ent-
fliehen. Dieser ästhetische Zwischenzustand ist der der interesselosen Betrachtung
 
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