Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. I I

401

Christliches Kunstblatt für Kirche, Zchule und Haus

in der Bibel eine Funktion des ästhetischen Menschengeistes erkennen. Den Höhe-
punkten sowohl des Alten als des Neuen Testaments, dem Schöpfungsbericht,
der Patriarchengeschichte, der Mosesgeschichte, der Vavidgeschichte, der Prophetie,
der Psalmen- und hiobdichtung einerseits, der Darstellung der Evangelien, der
Nusprägung der Lehre Christi in Gleichnissen und Sentenzen, der Darstellung
der Passion und der Nuferstehung, den Höhepunkten der paulinischen Briefe
über Glaube, Zünde, Erlösung, Liebe, Ewigkeitshoffnung, der Prägung des
Jakobus-, des Petrus-, der Johannes- und des griechischen Hebräerbriefes und
endlich den Visionen der Apokalypse, kommt der Charakter ästhetischer Produktion
in des Wortes allerhöchster Bedeutung zu.
Diese ästhetischen Produkte fallen allerdings nicht unter den leichten Formal-
begriff des „rein Schönen", sondern unter den gewaltigen Begriff des Erhabenen.
Keiner der Dichter hat diesen ästhetischen Grundton des „Erhabenen" im Zinne
Kants, diese Menschheitsdarstellungen der Kämpfe von sinnlichem und übersinn-
lichem Mesen der Menschheit, von den aus diesen Disharmonien entspringenden
Seelen- und Völkerkämpfen und von der reinen Verkörperung des Ideals der
Menschheit in Christus so sehr empfunden wie Goethe.
Wer die übliche Anklage vorbringt, daß mit der Anwendung des ästhetischen
Begriffs auf die Bibel das Buch der Bücher vertändelt werde, der kennt nicht
den moralisch-ästhetischen Grundbegriff des Erhabenen wie ihn Kant und Schiller
verstanden haben.
Feuer kommt von Feuer, Kunst von Kunst. Große Inhalts-Kunst ist vom
höchsten Buch der Menschheitsoffenbarung, von der Bibel gekommen, im Zinne
der Zchillerschen Ästhetik und des Kantschen Begriffs vom Erhabenen. Wenn
man sagen kann, das Moralische beim Menschen als der Krone der Gottes-
schöpfung versteht sich von selbst, so kann man sagen: das Künstlerische versteht
sich bei der Bibel, der Krone der Gottesoffenbarung, von selbst, darum redet
man gar nicht oder wenig davon.
Vie Gegensätze des Sinnlichen und Geistigen beherrschen den Menschen. Im
Kampf gegen das Sinnliche braucht der Mensch eine Kraft, welche die sinnliche
Natur hebt. Diese Macht ist für Kant die Religion, für Schiller tritt neben die
Religion im Kampf für den moralischen Zweck die ästhetische Bildung. In
den „Briefen über die ä sthetische Erziehung des Menschengeschlechts"
(1795 — 96) ist die moralische Organisation oder, wie Schiller sagt „der mo-
ralische Staat" die Aufgabe und Ziel der Menschheit, zu welcher diese sich
emporentwickelt durch das Hilfsmittel des ästhetischen'Staates, d. h. durch
die Arbeit des veredelten Naturtriebs, durch welche allein der Gegensatz zwischen
tatsächlichem Naturtrieb und idealem Moralzweck überwunden wird. Der Mensch
in seinem ersten physischen Zustand nimmt die Sinnenwelt bloß leidend auf
(25. Brief) und ist völlig eins mit derselben, und eben weil er selbst bloß Welt
ist, so ist für ihn noch keine Welt. „Erst wenn er in seinem ästhetischen Stand
sie außer sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine Persönlichkeit von ihr ab
 
Annotationen