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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 15.1923

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Heft 14
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Vondoerfer, P. E.: Gotische Meisterwerke der böhmischen Bildhauerkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.39945#0676
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ÄIs Karl Schaefer in [einem Auf [ab über „Ein Hauptwerk der böhmifchen Bildhauer-
fdjule aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts“ (Cicerone Fjeft 21, Jahrg. XIV) unter
anderem auch eine bisher für mittelrheinifch um 1420 angefprodjene kleine Buchsbaum-
Madonna der Sammlung Clemens in Köln — reproduziert im Cicerone Fjeft 10, Jahrg. XIV,
S. 415 — in die böhmifche Gruppe einreiht, fand ich meine Beobachtung beftätigt.
Das Kindlein befißt nicht bloß die gleiche rührende Anmut wie jenes der Maria in der
Prager Ueinkirche, fondern i)at auch die gleiche Bewegung in den Beinchen, ganz
ähnliche Neigung des Köpfchens, wenn auch nach entgegengefetjter Richtung. Bei der
Prager Madonna fitjt das Kindlein auf dem Schoß der Mutter, während bei jener der
Sammlung Clemens [ich dasfelbe, von der [teilenden Mutter mit der Linken gehalten,
mit dem rechten Beinchen an der Lende der Mutter emporftemmt. Und felbft in diefen
verfchiedenen Lagen weift die Stellung der Körperchen, die Art, wie die Beinchen ein-
gezogen werden und die Haltung der Ärmchen bei beiden merken enge Verwandtfchaft auf.
Ein ungemein reicher Faltenwurf und befonders eine ganz eigenartige, an der Düfte,
ganz feitlid), kaskadenartig herabfallende, äußerft üppige Drapierung, ift bei merken
der böhmifchen Richtung häufig zu beobachten. Diefes typifcße, geradezu verfchwende-
rifch angewandte Faltenfpiel, das [ich beim Derabhängen eines größeren, mittelfchweren
Stoffes an deffen Mittelpunkt naturgemäß entwickelt, finden wir bei der O,orner Ma-
donna, der Buchsbaum-Madonna der Sammlung Clemens, der von Karl Schaefer im
vorerwähnten Fjeft 21 des Cicerone veröffentlichten Kalkfteingruppe der hl- Elifabeth
im Bremer Dom, felbft bei der fixenden Maria der Prager Ceinkirche, über den ganzen
Schoß bis über die Knie herabwallend; in [pärlichem Grade auch, an dem linken Unter-
arm herab, bei einer Maria der Verkündigung aus Kalkftein in Frankfurter Privat-
befib1, welche übrigens eines der [chönften und anmutigften merke darftellt, die die
gotifche Bildhauerkunft Böhmens gefchaffen.
Bei diefer Gelegenheit möchte ich auch auf eine im gleichen Ulerk auf Abb. 49 re-
produzierte, als mittelrheinifch um 1420 bezeichnete Madonna aus Lindenholz, welche
aus Caub am Rhein ftammt, hinweifen. Für die Möglichkeit, daß diefelbe aus einer
böhmifchen Ulerkftatt hervorging, fprechen hier die wieder fichtlich italienifd) anmutende
Geftalt des Jefukindleins und vor allem der ausgefprochen flavifche Cypus der Maria.
Daß die entlegene Provenienz einzelner merke bei Beftimmung ihres Urfprungslandes
nicht irreführen darf, hat Karl Schaefer auch in einleuchtender, kurzgefaßter Uleife
genügend klargelegt. Bei der ausgedehnten Verbreitung des Stils, fogar bis in den
Norden, der Einwanderung von merken durch Beftellung auf oft weiten (Hegen und
der Ausführung von merken durch wandernde böhmifche Meifter, wie Schaefer fagt,
ift es nur allzu begreiflich, wenn man in ganz entlegenen, auch ganz fremdländifchen
Gegenden, zeitweilig einzelne merke böhmifcher Fjerkunft antrifft.
Schaefer erwähnt im übrigen noch einige merke, die der böhmifchen Bildhauerfd)ule
zuzufchreiben wären; viel mehr dürfte inzwifcßen wohl heute auch nicht zutage ge-
kommen fein. Ich will hier und auch in den nachfolgenden Abhandlungen, foweit es
die Raumverhältniffe geftatten, nur das erwähnen, was mir an lypifdßer böhmifcher
Plaftik der Gotik aus Kirchen, Klöftern, Mufeen ufw. bekannt ift. FJier muß ich auch
bemerken, daß das tfcßechifche Privat-Sammlertum auf diefem Gebiete bedauerlicher-
weife heute noch auf jenem Niveau fteht, auf welchem dasjenige Deutfchlands vor etwa
zwei Jahrzehnten ftand, in welcher 3eit die gotifche Bildhauerkunft unbegreiflicherweife
faft gänzlich ignoriert wurde.
mas [ich noch in den Kirchen befindet, ift, wie ja anderwärts auch, leider durch
neuzeitliche, unfehöne Polychromie entftellt. Auch ftehen diefe merke in ganz un-
paffender Umgebung und der reiche, überfchwengliche Barockftil der Kirchen verwifd)t
die Vorftellung einer edlen, formenftrengen und majeftätifcheu Gotik, die diefe ver-
] Otto Schmitt u. Georg Sd>warzenfki, Meifterwerke der Bildhauerkunft in Frankfurter Privat-
befijä, Band I, Äbb. 46 und 47.
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