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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 15.1923

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Heft 14
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Vondoerfer, P. E.: Gotische Meisterwerke der böhmischen Bildhauerkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.39945#0677

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waiften Ulerke einer hohen Kunft auslöfen. Eine folche Statue oder Gruppe wirkt in
foldjer Umgebung wie etwa ein fdjlidjtes, ehrliches, nicht minder vielfagendes tUort
unter einem Schwall von Reden und viel Gefchrei.
In den Klöftern findet [ich [eiten noch Gutes vor. Im Prämonftratenferftift Strahov
bei Prag befißt dejfen Galerie, welche im übrigen durch) ihr Dürerfches „Rofenkranz-
feft“ bekannt ift, einen trauernden Johannes einer Kreuzigung, der als ein ganz hervor-
ragendes öüerk der böhmifchen Gotik angefehen werden muß. Das fo unglaublich)
richtig und feiten gut beobachtete, bis ins kleinfte Detail durchgearbeitete Gewand, die
verblüffend natürlich wiedergegebene Schürzung des Überwurfs und die herrliche Falten-
gebung, das alles ift fo künftlerifch durchdacht und auf dem richtigen Fleck, daß der
Befcßauer, durch diefe realiftifche Pracht gebannt, den Blick nicht davon wenden kann.
Die Ärt, wie der Fjeilige die Hand an die Illange hält, der fchmerzlich) verzogene Mund,
die Äugen, die einen im Schmerz feitlich) nach abwärts verlorenen, ftarren Blick an-
nehmen, das alles find fo rein menfch)liche Momente, die den Befchjauer in Bewunde-
rung für das gefamte Kunftwerk in Ätem halten. Die gleiche Wirkung löfen Ulerke
der Syrlins, des Pacher, des Daniel Mauch) oder des Cilman Riemenfchmeider aus, die
in ihrer fo überaus wahren Darftellung der menfchlichjen Seelenregung fo ergreifend find.
Hier will ich auch nochmals auf die Gruppe der heiligen Maria in der üeinkirche
zu Prag bewundernd hinweifen, deren Jefukindlein ich bereits befprodjen habe.
Äus dem Reft der infolge des ftändigen ölechfels der Kirche, welche bald im Befit^
der Katholiken, bald in dem der Proteftanten war, zum größten Ceil abhanden ge-
kommenen Akten, war über die Madonnen-Statue nichts zu finden. Der jetzige Pfarrer,
dem ich diefe wenigen Daten verdanke, konnte mir auch nichts über die Entftehung
des (Uerkes mitteilen und mußte ßch darauf befcßränken, mir in liebenswürdigfter Uleife
nur das zu fagen, was ihm aus der Gefcßicßte der Kirche über die Madonnen-Statue
bekannt ift.
Der damalige utraquiftifche Pfarrer Potuska ließ im Jahre 1517, als er zum lutherani-
fchen Glauben übertrat, wie [amtliche Heiligenbilder und -ftatuen, auch diefe Madonna
aus der Kirche entfernen und in der Sakriftei, mit Brettern verfcßlagen, aufbewahren.
Erft während des 30jährigen Krieges, als die Kirche wieder katholifcl) wurde, kam die
Statue wieder zu Ehren und ße nimmt jeßt einen Seitenaltar ein.
Kamill Novotny widmet diefem ÜJerke in feinem in böhmifcher Sprache verfaßten
Büchlein über die Kirche zu Maria-Cein („Umelecke Pamätky“ [„Kunftdenkmale“] Bd. 2,
Verlag F. Copic, Prag) keine allzu große Äufmerkfamkeit, was allerdings der äußerft
befcßränkte Umfang diefer Sammlung verfcßuldet; auch verfolgt letztere mehr den
3weck einer allgemeinen Orientierung. Die kurze Befchreibung unter der ziemlich un-
vorteilhaften Reproduktion lautet in der Überfeßung: „Die Bewegung der Madonna
und des fitjenden Jefuskindleins, die fchweren Falten der Gewänder, die runden Formen
der Modellierung der Körper, zeigen den noch monumentalen, nicht realiftifchen Stil.“
Ich entziehe mich der näheren Kritifierung diefer unzulänglichen, kurzen Bemerkung,
doch entgegne ich nur, daß fcßon die Beftimmung, die einer folch rein perfönlicßen
Darftellung zugrunde liegt, nämlich die einer Bildgruppe, die im wahrften Sinne der
fpeziellen Verehrung dienen foll, den „nicht realiftifchen Stil“ bedingt. Im Gegenfafe
dazu verraten die der gleichen Epoche entftammenden Darftellungen, die mehr eine
Cat oder Begebenheit veranfchaulichen, wie etwa die der Kreuzigung, einen ausge-
fprod)en realiftifchen Stil. Es kann daher hier im allgemeinen Sinne von einem „noch
monumentalen, nicht realiftifchen Stil“ keine Rede fein.
Der Aufbau des kleinen Altars ift neu, nicht unrichtig im Stil, aber mit allzu fchreiendem
Änftricl) verfehen, die neuere Polychromie der Gruppe jedoch nicht unfdjön. öder die Re-
produktion, die ich hier zu bringen nicht verfehlen will, betrachtet, kann ßch leider von
dem unbefchreiblichen Ausdruck von Milde und Güte und der zarten, lieblichen Anmut nur
einen fchwad)en Begriff machen. Ich fürchte nicht, lächerlich zu erfcheinen, wenn ich
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