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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Roh, Franz: Ein neuer Henri Rousseau: zur kunstgeschichtlichen Stellung des Meisters
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0742
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die nur von winzigen Sternen durchfebt ift. Davor in dichter Nähe, feltfam ins Fron-
tale gebracht, dem Oer durch Über[d>neidung verbunden, der fchräg ver[d)obene
Block einer menfd)lid)en Figur, die unter dem Blick des Oeres wie in Codesfcfylaf ver-
funken fcheint. Noch weiter vorn in kaltem Leuchten einfames Gerät, eine Mandoline“,
kindartig neben dem Körper ausgeftreckt, fd)ließlid) eine verlaffene Krugform, empor-
fteßend zur Mondfeheibe, die kältend über allem leuchtet.
Das gefamte Bild — das ift das CUunderbare — bis in die Ecken in einheitliche
Subftanz gezwungen: Nachtdunkel bei Dünenglanz. Das aber nicht lyriftifd) verflüchtigt
und als Ätmofphärifches verfließend, fondern, darin liegt die weitere märchenhafte
Umdeutung, hart hineinkriftallifiert in taftbare, gefchliffene, gefchnittene Gegenftands-
welt. Das Ganze wie aus Perlmutter, oder wie in Glasfd)nitt behandelt. Im Löwen-
körper ftehen die Nachtflächen, oben darauf aber, wie auf fernem Bergrücken, leuchtet
der Schneeglanz des Mondes. Die Mähne — unheimliche Umdeutung wieder — wie
ein am Firft entfpringendes Gewirr elektrifd) glühender Drähte. Und das Auge des
Cieres von furchterregender Schärfe, halb ein Mafd)inenteild)en, halb gefrorener Blick
kleiner Reptilien. Im Menfchenkörper, der daliegt wie eine dicke, bananenartige Frucht,
wieder das Dunkel der Nacht gefangen, als Ganzes eingehüilt in die mondartig leuch-
tende Baut des tropifchen Kleides, das man in fleißigen Strähnen abziehen kann, als
fei es aus fetten Stengeln gerüfcßt. Fuß- und Fingernägel leuchten wie winzige Mond-
abfprengfel, rufen feltfam die Ätmofphäre kleiner bleicher Mufcheln am nächtlichen
Meeresftrand herbei. Und aus dem dunklen Menfchenmund blinkern Uierzähnchen
wie vom Monde gefallene Cropfen. In der Mandoline nochmal derartiges Spiel: Um
ihr dunkel gähnendes Schalloch, neben ihrem nächtlichen Fjals glänzt mondartig die
Fläche des Griffbrettes. Die weißen Saiten aber find wie befcßneite Drähte ferner
Celegraphen, lpngefpannt durch die Nacht bis zu dem fcharfen Knick, den pe an ihren
porzellanenen Köpfchen nehmen müffen.
Die Kompofition ift von fo bedeutender weil vielfagender Naivität, dabei von derart
ficherer Fügung, daß pe immer wieder in Bann fcßlagen wird.

Rouffeaus Stellung
Die kunftgefchichtliche Stellung Rouffeaus — der 1844, alfo fünf Jahre nach Ce-
zanne geboren wurde und 1910 ftarb -— ift noch wenig erkannt. Daß Rouffeau nicht
zu erledigen ift mit den Begriffen „harmlos“, „der gute 3öllner“, „Sonderling“, „Infan-
tilismus“, dürfte Allen klar geworden fein, die gute Originale (auf diefe kommt es frei-
lich an) gefepen haben. Ein innerhalb feiner Abpcpten peperftes Können, eine in den
reifen Bildern geradezu juwelenhafte Koftbarkeit der Farbe haben ihn längft unter die
Führer der jüngften 3eit eingereiht1. Seine Bedeutung liegt nicht am wenigften
darin, daß er unter der Decke entfcploffener Abftraktion immer naturnah, fepeinbar
fogar naturaliftifch blieb. (Man nehme in unferem Bilde nur Band und Füße des
tUeibes und das Beinwerk des Löwen, das fogar zu naturaliftifch herauszukommen
fcheint, da man die immer wieder verwandt gemachte Modellierung des Landes wie
der Menfcpenglieder auf der Abbildung nicht deutlich genug wahrnimmt.) Die unver-
mittelte Berangefcpobenpeit des Menfchenleibes an das Oer ift nicht etwa Ungefchick. Sie
iß unbewußter, vielleicht fogar bewußter Ausdruck fcßlafender Einfamkeit aller Objekte
überhaupt. Diefe pnd wie durch ihnen gänzlich fremde Kräfte von außen zu unheim-
licher Begegnung zufammengefchoben. Eine fozufagen pluraliftifche CUeltauffaffung,
die den Beziehungen unferes ÜJeltganzen näher kommen dürfte als alles — in weiteftem
Sinne — moniftifche Vorteilen, das fo leicht antropomorph oder verendlicpend
ausfällt.
1 Scbon durd) die Preiskurve wird das ausgedrückt: Die „Frau mit rotem Kleid im ttlald“*
(flehe Abbildung) erwarb übde für 40 Frs. 1921 brachte das Bild 27 000 Frs.
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