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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 18.1926

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Heft 4
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Ėttinger, Pavel D.: Die modernen Franzosen in den Kunstsammlungen Moskaus, Teil 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.41317#0131
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zelnen Etappen noch packender und mit größerer Leidenschaftlichkeit bis
zum äußersten durchlebt, um dann in krasse Antithesen umzuschlagen.
Eine ganze Gruppe von Bildern zeigt die früheste, sogenannte „blaue“
Schaffensperiode Picassos um die Wende unseres Jahrhunderts, zum Teil
noch in der spanischen Heimat des Künstlers. Über den Einfluß Grecos und
anderer spanischer Meister auf ihn in jener Zeit ist schon viel geschrieben
worden, und er kommt deutlich in dem expressiven „Alten Juden mit Knaben“
(Abb.), ähnlich auch in der monumentalen „Begegnung“, zum Ausdruck,
obwohl die fast skulpturale Kompaktheit der Silhouette im erstgenannten
Bilde (1903) gleichzeitig schon von einer Abschwenkung von der barocken
Kunst des großen Toledaners zeugt. Diese Werke, ebenso wie das frühe
Bildnis des spanischen Dichters Savartes (1901), sind ganz in ein milchiges
Blau getaucht, das ihren Gefühlsinhalt noch unterstreicht. Dann folgt in der
Mitte des ersten Jahrzehntes der Sprung ins volle Pariser Leben, in die
Themenwelt Toulouse-Lautrecs, an welchen die Anklänge häufig recht sicht-
bar werden, sowie anderer Sittenschilderer der französischen Hauptstadt. Diese
Etappe, in welcher das Bestreben nach scharfer Charakteristik und Ex-
pression noch vorherrschend bleibt, illustrieren im Moskauer Museum außer
unserer Abbildung „Im Cafe“ (Abb.) noch die „Absinthtrinkerin“, ein Apachen-
mädel und die Liebesszene eines piou-piou. Ein ganz neues Farbengefühl
taucht in der nächsten Serie auf, welcher Zirkushelden, wandernde Seiltänzer
und Akrobaten in diversen Gruppierungen zum Vorwurf dienen — ein zartes,
blasses Rosa klingt hier musikalisch mit graublauen Tönen zusammen.
Danach vollzieht sich allmählich die große Wendung, welche Picasso in
die erste Reihe der tonangebenden modernen Maler führte, um ihn bald
zu ihrem anerkannten Führer zu machen. Als ob der Künstler dem In-
haltlichen, Emotionellen, dem Musikalisch-Femininen, das aus seinen bis-
herigen Werken unzweifelhaft oft herauszufühlen war, endgültig entfliehen
wollte, entsagt er nunmehr jeder Handlung, wählt nur rein formale Motive,
die er immer mehr vereinfacht und bis zur Versteinerung primitivisiert. Ein
blühender Blumentopf gemahnt an chinesische Erzeugnisse aus Mondstein;
steinern erscheinen in einem Stilleben Birnen und Äpfel neben braunen
Zementvasen. Auf gleicher Bahn bewegt sich hier auch die Farbenwahl,
die ernst und asketisch keusch wird, und meist nur aus einem dunkeln Grau,
schwerem Ockerbraun und mattem Grün besteht. In dieser Art sind einige
schon ganz kubistisch stilisierte Frauenstudien, wie die „Dame mit Fächer“,
„Mädchen mit Gitarre“ und die „Königin Isabeau“ (Abb.) gehalten, die wohl
zum Besten gehören, was Picasso in dieser mittleren Periode geschaffen hat.
Der Kubismus mit seinem Niederschlag der Mode gewordenen Negerplastik
setzt sich immer mehr durch; Aktstudien wirken nun wie mächtige Stein-
idole und die letzten Konsequenzen der Richtung werden gezogen. Aber
auch in diesen oft geradezu monströsen Bildern bleibt Picasso stets der ge-
borene, klangvolle Maler, und in den 1909 datierten „Drei Frauen“ — Ent-
wurf zu dem gleichnamigen Gemälde in der Kollektion Stein, Paris — ballen
sich die ziegelroten Farbenmassen mit solch malerischer Wucht, daß hier
eine „gegenstandslose Malerei“ im besseren und wirkungsvolleren Sinne ge-
geben ist, als die von Kandinsky erstrebte und realisierte.
Ein Rückschlag gegen diese radikalen, monumental-plastischen Tendenzen,
aber auch eine Weiterentwicklung der begonnenen Zerlegung der Form v/ar
unausbleiblich. Die Resultate sind allbekannt, und in einem intimen Kabinett
der ehemaligen Schtschukingalerie finden wir eine kleine Sammlung von
Werken der letzten Vorkriegsphase Picassos — bald flächenhaft, bald bas-
 
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