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I. Die Wurzeln der mittelalterlichen Kunst
Kämpfen für oder gegen die Anerkennung jener übernommenen
Erbschaft.
Zwei große Themen der neueren, besonders der deutschen Kunst-
geschichte, nicht allein des Mittelalters, sind am Beginn schon klar-
gestellt. Die deutsche Kunst ist schon im Anfang Erbe, so daß
sie von Anfang an und später immer wieder Leben aus dem Nähr-
boden der Antike gewinnt und sich doch immer — um ihrer Selb-
ständigkeit willen und weil sie eigene Kraft hat und auf eigenem
Boden erwachsen ist — gegen das überkommene, oft geliebte und
ersehnte, oft verachtete und gehaßte Alte wehren muß. Die Pro-
bleme der Renaissance, des Klassizismus und der antiklassizistischen
Revolutionen sind im Karolingischen schon aufgeworfen. Das andere
durch den Gesamtverlauf der deutschen Kunst hindurch aufzeig-
bare Moment ist ihr Angewiesensein auf fremde Anregung und
Befruchtung. Gewiß lebt nie die Kunst eines Volkes, einer Land-
schaft für sich, abgeschlossen und ohne Austausch mit den Nachbarn.
Doch ist wohl für keine Kunst der Einstrom fremder Kunst und
die Verarbeitung fremder Anregungen, das Leben vom Austausch
so sehr Schicksal gewesen wie für die deutsche; aber es ist auch keiner
die Fähigkeit zur Durchbildung und vollkommenen Zuendeführung
der fremden künstlerischen Anregungen in dem Maße zur Ehre und
zur schöpferischen Leistung geworden wie ihr, vor allem keiner das
Vermögen, durch schöpferische Verwandlung des von außen Über-
nommenen den Reichtum und die Mannigfaltigkeit der abend-
ländischen Kunst so zu vermehren und zu erfüllen. Das also ist
das andere Thema, das schon zu Beginn formuliert ist: daß die
deutsche Kunst nicht selbständig führt, kaum je die abendlän-
dische Entwicklung leitet, sondern geführt wird, daß sie aber
gerade darum berufen ist, das Extreme und Endgültige jedes Stiles
zu erschaffen und im Abweg von der abendländischen Norm das
Besondere zu bilden, und vor allem dies: daß Deutschland das
Land der Spätstile ist.
Die deutsche Kunst beginnt mit einer Übernahme der Antike.
Und da es die späte, reifste, mürbeste Antike ist, die gewollt und
nachgeahmt wird, da es ein bis an die Grenze der Entwicklungs-
möglichkeit entfalteter und zum Teil schon im Alter erstarrter oder
barbarisch verderbter Stil ist, der übernommen wird, so beginnt,
die deutsche Kunst mit einem Spätstil, einem Altersstil.
Das Sonderbare der historischen Situation zu Beginn der mittel-
alterlichen Kunst liegt darin, daß der fremde Spätstil übernommen
I. Die Wurzeln der mittelalterlichen Kunst
Kämpfen für oder gegen die Anerkennung jener übernommenen
Erbschaft.
Zwei große Themen der neueren, besonders der deutschen Kunst-
geschichte, nicht allein des Mittelalters, sind am Beginn schon klar-
gestellt. Die deutsche Kunst ist schon im Anfang Erbe, so daß
sie von Anfang an und später immer wieder Leben aus dem Nähr-
boden der Antike gewinnt und sich doch immer — um ihrer Selb-
ständigkeit willen und weil sie eigene Kraft hat und auf eigenem
Boden erwachsen ist — gegen das überkommene, oft geliebte und
ersehnte, oft verachtete und gehaßte Alte wehren muß. Die Pro-
bleme der Renaissance, des Klassizismus und der antiklassizistischen
Revolutionen sind im Karolingischen schon aufgeworfen. Das andere
durch den Gesamtverlauf der deutschen Kunst hindurch aufzeig-
bare Moment ist ihr Angewiesensein auf fremde Anregung und
Befruchtung. Gewiß lebt nie die Kunst eines Volkes, einer Land-
schaft für sich, abgeschlossen und ohne Austausch mit den Nachbarn.
Doch ist wohl für keine Kunst der Einstrom fremder Kunst und
die Verarbeitung fremder Anregungen, das Leben vom Austausch
so sehr Schicksal gewesen wie für die deutsche; aber es ist auch keiner
die Fähigkeit zur Durchbildung und vollkommenen Zuendeführung
der fremden künstlerischen Anregungen in dem Maße zur Ehre und
zur schöpferischen Leistung geworden wie ihr, vor allem keiner das
Vermögen, durch schöpferische Verwandlung des von außen Über-
nommenen den Reichtum und die Mannigfaltigkeit der abend-
ländischen Kunst so zu vermehren und zu erfüllen. Das also ist
das andere Thema, das schon zu Beginn formuliert ist: daß die
deutsche Kunst nicht selbständig führt, kaum je die abendlän-
dische Entwicklung leitet, sondern geführt wird, daß sie aber
gerade darum berufen ist, das Extreme und Endgültige jedes Stiles
zu erschaffen und im Abweg von der abendländischen Norm das
Besondere zu bilden, und vor allem dies: daß Deutschland das
Land der Spätstile ist.
Die deutsche Kunst beginnt mit einer Übernahme der Antike.
Und da es die späte, reifste, mürbeste Antike ist, die gewollt und
nachgeahmt wird, da es ein bis an die Grenze der Entwicklungs-
möglichkeit entfalteter und zum Teil schon im Alter erstarrter oder
barbarisch verderbter Stil ist, der übernommen wird, so beginnt,
die deutsche Kunst mit einem Spätstil, einem Altersstil.
Das Sonderbare der historischen Situation zu Beginn der mittel-
alterlichen Kunst liegt darin, daß der fremde Spätstil übernommen