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1. Die altnordische Kunst

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wird von — im Vergleich zur Antike — primitiven und barbarischen
Völkern, daß das Ungebildete mit Überbildetem sich vereinigt,
daß also das Noch-Nicht mit dem Nicht-Mehr eine Ehe schließt,
aus der das Neue, Junge, Kühne geboren wird. Um die karolin-
gische Kunst zu begreifen, muß man daher ihre Voraussetzungen
kennen, jene beiden Wurzeln der mittelalterlichen Kunst: die
nordisch-primitive und die antike, deren Erbe angetreten wurde.
1. Die altnordische Kunst
Die altnordische Kunst des vorkarolingischen Jahrtausends
kennen wir fast gar nicht. Was uns erhalten ist, ist wenig und
Zufälliges: einige Tongefäße, Bronzegeräte, ein wenig Schmuck
und Stoffreste. Kein Rest von Architektur, keine Spur einer
Monumentalkunst gibt Kunde von großer Kunstübung. Daraus
darf aber nicht der Schluß gezogen werden, daß keine große Kunst
bestand; denn man weiß, daß das hauptsächliche Kunstmaterial
der Germanen Holz war — und das ist, soweit es nicht bei der
Christianisierung und später zerstört wurde, längst verbrannt oder
vermodert. Seitdem das durch glückliche Umstände erhaltene Oseberg-
schiff (Abb. 2), jenes kostbare und auf das reichste und üppigste
verzierte nordische Prunkschiff mit seinen Wagen und Schlitten
gefunden worden ist und als einziges großes Zeugnis germanischer
Kunst des 9. Jhs. die Fragen nach der gleichzeitigen Palastarchitek-
tur und nach der langen und reichen Entwicklung, die solchem Werk
vorausgegangen sein muß, zwingend stellt, seitdem scheut man sich,
über die germanische Kunst auf Grund des verschwindenden und
fast belanglosen, zufälligen Materials, das erhalten blieb, irgendeine
Aussage zu machen; denn es scheint kaum möglich, etwas Wesent-
liches zu sagen, ohne zu phantasieren.
Es bleibt nur eine Möglichkeit, wenn man nicht von der Nach-
wirkung dieser frühen Kunst aus Rückschlüsse machen will: von
ihrem Verhältnis zur späten Kunst etwas auszusagen, also nur
etwas Relatives — oder anders ausgedrückt, wir können sie nur
vom Standpunkt der späteren Kunstentwicklung, unserer Kunst-
entwicklung aus beurteilen. Ein anderes Urteil, als das von der
mittelalterlichen Kunst absondernde, ist in unserem Zusammen-
hang auch nicht nötig. Von hier aus gesehen ist die germanische
Frühkunst primitiv und relativ entwicklungslos: eben weil sie
nicht in die neuere Kunst sich hinein entwickelt, weil ihre gewiß
 
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