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I. Die Wurzeln der mittelalterlichen Kunst
sierung der Nordvölker durch die kirchliche Mission das Erblühen
der mittelalterlichen Kultur, welche die Antike weiterführte, mit
bewirkte, so darf man nicht vergessen, daß diese Mission selbst
antiker Herkunft war.
Es lebte schließlich noch —wenn auch in stärkster Umbildung —
die Tradition der spätantiken Philosophie, Historie, Rhetorik, und
sie sollte für das mittelalterliche Geistesleben viel fruchtbarer
werden als es die bescheidene Überlieferung authentischer Schrift-
zeugnisse versprechen konnte.
Am wichtigsten für die Geburt der mittelalterlichen Kunst war
jedoch, daß die antike Kunst in spätester, wenn auch umgebildeter
Form noch lebte. Immer war sie vor allem Darstellung gewesen
und hatte sich niemals ausschließlich dekorativ, nur dem Schmück-
drang folgend, betätigt. Seit vorklassischer griechischer Zeit hatte
sie immer vermocht, das Organische organisch zu gestalten, ja
selber die architektonischen Gebilde organisch tektonisiert. Eben
das unterscheidet sie ja von aller anderen Kunst und im besonderen
von der primitiven altnordischen. Immer war sie bedeutend gewesen,
d. h. in der sinnlich erfaßbaren künstlerischen Gestalt war deren
Bedeutung vollkommen gestaltet worden (und dies allein macht ja
im abendländischen Sinne eine Darstellung erst möglich und ver-
ständlich). Das aber hatte auch die zopfig gewordene und mit
orientalischen dekorativen Elementen vermischte spätest-antike
Kunst immer bewahrt; diese Fähigkeit hatte im römischen Naturalis-
mus und im späten Illusionismus jenen Grad erreicht, daß das nicht
Greifbare, der Schein und Schimmer der Dinge, das individuell
Psychische des Menschen im Porträt, das Bewegte und spielerisch
Lebendige des Laubes, des glitzernden Wassers und der flimmernden
Luft in gestaltetem Werk gezeigt und bejaht wurde und selbst die
Architektur mit einer — Wirklichkeit vortäuschenden — wein-
umrankten und von Putten durchtollten Laubendekoration heiter
und reizend überzogen wurde. Wir besitzen genügend Zeugnisse
davon, daß ein Nachklang dieser reichen Spätkunst bis ins 9.Jh.
hinein lebendig war (z. B. die goldene Verkleidung des Altars von
Sant’ Ambrogio in Mailand), wenn sie auch von dem flächigen und
starkfigurigen, heilig-strengen griechisch-orientalischen Stil zurück-
gedrängt war. In diesem vorherrschenden byzantinischen Stil, einer
Mischung aus klassizistischer griechischer Figurenstrenge und
-idealität mit orientalischem prunkhaftem Flächendekorationsstil,
lebte die ganze Spiritualität der spätantiken Kunst insofern, als
I. Die Wurzeln der mittelalterlichen Kunst
sierung der Nordvölker durch die kirchliche Mission das Erblühen
der mittelalterlichen Kultur, welche die Antike weiterführte, mit
bewirkte, so darf man nicht vergessen, daß diese Mission selbst
antiker Herkunft war.
Es lebte schließlich noch —wenn auch in stärkster Umbildung —
die Tradition der spätantiken Philosophie, Historie, Rhetorik, und
sie sollte für das mittelalterliche Geistesleben viel fruchtbarer
werden als es die bescheidene Überlieferung authentischer Schrift-
zeugnisse versprechen konnte.
Am wichtigsten für die Geburt der mittelalterlichen Kunst war
jedoch, daß die antike Kunst in spätester, wenn auch umgebildeter
Form noch lebte. Immer war sie vor allem Darstellung gewesen
und hatte sich niemals ausschließlich dekorativ, nur dem Schmück-
drang folgend, betätigt. Seit vorklassischer griechischer Zeit hatte
sie immer vermocht, das Organische organisch zu gestalten, ja
selber die architektonischen Gebilde organisch tektonisiert. Eben
das unterscheidet sie ja von aller anderen Kunst und im besonderen
von der primitiven altnordischen. Immer war sie bedeutend gewesen,
d. h. in der sinnlich erfaßbaren künstlerischen Gestalt war deren
Bedeutung vollkommen gestaltet worden (und dies allein macht ja
im abendländischen Sinne eine Darstellung erst möglich und ver-
ständlich). Das aber hatte auch die zopfig gewordene und mit
orientalischen dekorativen Elementen vermischte spätest-antike
Kunst immer bewahrt; diese Fähigkeit hatte im römischen Naturalis-
mus und im späten Illusionismus jenen Grad erreicht, daß das nicht
Greifbare, der Schein und Schimmer der Dinge, das individuell
Psychische des Menschen im Porträt, das Bewegte und spielerisch
Lebendige des Laubes, des glitzernden Wassers und der flimmernden
Luft in gestaltetem Werk gezeigt und bejaht wurde und selbst die
Architektur mit einer — Wirklichkeit vortäuschenden — wein-
umrankten und von Putten durchtollten Laubendekoration heiter
und reizend überzogen wurde. Wir besitzen genügend Zeugnisse
davon, daß ein Nachklang dieser reichen Spätkunst bis ins 9.Jh.
hinein lebendig war (z. B. die goldene Verkleidung des Altars von
Sant’ Ambrogio in Mailand), wenn sie auch von dem flächigen und
starkfigurigen, heilig-strengen griechisch-orientalischen Stil zurück-
gedrängt war. In diesem vorherrschenden byzantinischen Stil, einer
Mischung aus klassizistischer griechischer Figurenstrenge und
-idealität mit orientalischem prunkhaftem Flächendekorationsstil,
lebte die ganze Spiritualität der spätantiken Kunst insofern, als