Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Deutschland und Frankreich

29

Kunst im 10. und 11. Jh. — und dieser Prozeß wurde durch die
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zustände verstärkt —
überaus schnell auf eine frühe Stufe eigentümlicher Archaik, während
in Deutschland noch die jungen Kräfte sich des übermächtig dro-
henden Schattens der späten Antike erwehren mußten, und aus
diesem Kampf die wunderbarsten und allem gleichzeitigen Fran-
zösischen unendlich überlegenen Werke der ottonischen Kunst ent-
standen. Indem so die französische Kunst früher ihre Eigenart (wenn
auch zunächst auf qualitativ niederer Stufe) fand, gewann sie einen
fast hundertjährigen Vorsprung in der Entwicklung. Das ganze
12.Jh. hindurch, in dem die deutsche Kunst langsam und mühsam
ihre bodenständige und eigene Archaik erringt, ist in Frankreich
brausendes und stürmisches künstlerisches Leben, das alle großen
künstlerischen Entdeckungen macht, alle Entwicklungsstufen strah-
lend erspringt und um 1200 die klassische Phase des Mittelalters
heraufführt — zu einer Zeit, in der Deutschland kaum oder gerade
eben sich gefunden hat und immer noch mit dem Erbe ringt, das
ihm nicht von Natur überkommen ist, sondern das es in freier Tat
aus Verpflichtung gegen eine Idee und vor allem aus Sehnsucht und
träumerisch auf sich genommen hat.
So klar und selbständig, folgerichtig und von innen her also
die künstlerische Entwicklung in Frankreich ist, so verworren und
kompliziert ist die deutsche. Man kann den Verlauf der deutschen
Kunst bis ins 13. Jh. überhaupt nicht im strengen Wortsinne als
Entwicklung begreifen und möchte lieber von Verwicklung reden.
Immer ist solche reiche Verwicklung Schicksal der deutschen Kunst
und Keim ihres eigentümlichen Wertes gewesen. Fast unauflöslich
aber wird die Verwickeltheit des stilistischen Verlaufes der deut-
schen Kunst des Mittelalters dadurch, daß neben der eigentlichen
Auseinandersetzung mit der übernommenen späten Antike (die
schließlich zur Abstoßung aller fremden Elemente und zur Erreichung
einer eigenen Archaik führen mußte) neue Anregungen vom Osten
her von der orientalisierten griechischen Kunst von Byzanz ein-
strömen und immer aufs neue das sehnsüchtig geliebte spätantike
Element stärken, während vom Westen her (in einzelnen markanten
Einwanderungen von Werkstätten und in leiser ständiger Einwir-
kung) die festen, sicheren und durch ihre Fortschrittlichkeit über-
legenen französischen Stile eindringen — und zwar bald ältere in
Frankreich abgelebte und überholte, bald solche, die auch im Westen
zu den neuesten und modernsten gehören. All dies mischt sich in
 
Annotationen