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Dell, Josef
Das Erechtheion in Athen: bauanalytisch, unters., erkl. u. ergänzt — Brünn [u.a.], 1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.6030#0014
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in der Höhe, Kekrops in der Tiefe bei der Schlangengrotte. Und doch mochten
sich zwischen der Urbevölkerung und den Kolonisten des öfteren Unstimmig-
keiten eingestellt haben, die schließlich zum ernsten Zwist führten. Athene
nimmt sich der Pelasger an gegen Kekrops, der sich aber zum Widerstande der
Göttin gegenüber zu schwach fühlt. Er ruft den Schutz des, der Athene nicht
sonderlich günstig gestimmten Meergottes Poseidon an, der der Einladung
folgt und sich neben der Schlangengrotte festsetzt. Er legt daneben als sein
Naturmal ein Meer an.

Nun wird von einem erschütternden Drama, einem heftigen Streit dieser
beiden Götter, Athene und Poseidon, berichtet. Da aber keiner der streitenden
Teile so mächtig ist, den anderen ganz zu verdrängen, um in den alleinigen
Besitz zu gelangen, so kann es sich nur um das Verlangen nach Besitzzuwachs
und um die Vorherrschaft gehandelt haben. Vielleicht lag die unmittelbare
Veranlassung des Streites darin, daß Poseidon sein Meer als zu klein erachtet,
weil es zeitweise nicht das ganze Niederschlagswasser aufnehmen konnte und
viel davon ungenützt abfloß, so daß er bestrebt ist, Abhilfe zu schaffen. Es ist
nur zu deutlich zu erkennen, wie er am liebsten die Felsstufe gegen Osten zu, auf
der das Heiligtum der Athene sich befindet, von seinem Gehilfen Seismos im
kurzen Wege erschüttern und wegsprengen lassen möchte, um zu seinem Zwecke,
der Vergrößerung des Meeres, zu gelangen.

Er stößt mit seiner Forderung an Athene, nach Osten auszuweichen, auf
Widerstand; wenn auch ihr Naturmal, das vom Himmel gefallene Bild, wohl
nicht mit dem Boden verwachsen ist und sich leicht übertragen ließe, so beharrt
sie doch auf ihrem Anrechte der Unantastbarkeit des Ortes, wo der Stein zur
Erde fiel. Sie wehrt sich, erhebt Einspruch und Klage bei den Göttern. All-
bekannt ist, daß der Urteilsspruch der Götterversammlung dahin lautet, daß
jenem streitenden Teile Hecht zugesprochen wird, der dem Lande und Volke
die größere Wohltat erweist, der also einen größeren Nutzen gewährleistet.
Poseidon hält das Wasser für das kostbarste Geschenk und verspricht, es in
Fülle zu schaffen. Er läßt einen Quell aus dem Fels hervorrauschen, wo später
noch der Abdruck des felsensprengenden Dreizackes gezeigt wurde. Aber
Athene macht von ihrem Heiligtume aus auf das seinige einen Flankenangriff
und wirft von oben über dasselbe in seinen Temenos den Samen einer Ölfrucht,
der sofort zum segensreichen Baum aufsprießt. Überdies hat sich ja Poseidon
selbst ins Unrecht begeben, mit der Hervorrufung der Quelle, denn diese Aufgabe
kommt ja nicht ihm zu, sondern ist ein Vorrecht der Quellnymphen.

Die Götter legen nun dem Geschenke des Ölbaumes einen größeren Wert
bei, da derselbe für das Land wichtiger ist wie der Wassersprudel des Poseidon,
der inzwischen, wie nicht anders zu erwarten war, zur unbrauchbaren Salz-
quelle sich veränderte. Die Bedeutung dieses Urteilsspruches für Athen wurde
verherrlicht im Westgiebel des Parthenon, wo der Streit in künstlerisch voll-
endeter monumentaler Weise dargestellt war. Poseidon zieht sich grollend und
unversöhnt zurück. Der darauf zwischen Athene und Poseidon geschlossene
Vertrag hält aber trotzdem an der Heiligkeit des Ortes der Natur- und Kult-

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