Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

DOI Artikel:
Welsch, Wolfgang: Immaterialisierung und Rematerialisierung: Zu den Aufgaben des Design in einer Welt der elektronischen Medien
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0233
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
det wird. Karl Kraus schrieb (im präelek-
tronischen Zeitalter): „Im Anfang war die
Presse, und dann erschien die Welt." Günther
Anders hat dies 1956 unter Fernsehbeding-
ungen aktualisiert und auf die sarkastische
Formel gebracht: „Im Anfang war die Sen-
dung, für sie geschieht die Welt."

Bei dieser medialen Präsentation wird die
Alltagswirklichkeit zunehmend den medialen
Gesetzen unterworfen. Sie wird beispielswei-
se den televisionsspezifischen Forderungen
der Bildhaftigkeit, des schnellen Schnitts, der
rhythmischen Sequenzierung ausgesetzt.
Damit wird die Medienlogik zunehmend zur
Logik der Wirklichkeit - und zwar zunächst
jener herausgehobenen Wirklichkeiten, die
der Medienpräsentation für würdig befun-
den werden.

b. Medienvorbildlichkeit

Zweitens hat dies Rückwirkungen auf das
Arrangement der Realität selbst. Viele Real-
ereignisse werden heute von vornherein im
Hinblick auf ihre mediale Präsentierbarkeit
inszeniert. Das gilt für Protestaktionen eben-
so wie für Kulturveranstaltungen. Ähnliches
ist hinsichtlich der Selbstgestaltung der Indi-
viduen festzustellen. Da Persönlichkeits-
formung in der modernen Welt vorwiegend
anhand von Leitbildern der Medien erfolgt,
begegnen wir im Alltag zunehmend medien-
typisch geprägten Figuren. Durch derlei Rück-
wirkungen prägen Mediengesetze die Real-
bestände der Wirklichkeit. Nicht nur die me-
diale Darstellung der Wirklichkeit, sondern
die außer-mediale Wirklichkeit selbst ist fort-
an von medialen Bestimmungsstücken durch-
zogen.

c. Marginalisierung geographischer Un-
terschiede

Drittens führt die Telekommunikation zu ei-
nem generellen Angriff auf Grundkoor-
dinaten unserer gewohnten Wirklichkeit.
Raum und Zeit, die Grunddimensionen, wel-
che die alltägliche Wirklichkeit aufspannen,
werden telekommunikativ zunehmend ein-
gezogen. Wo die Lichtgeschwindigkeit
herrscht, verlieren die räumlichen Distanzen
an Bedeutung. Die Besonderheit der Orte
schwindet, denn medienelektronisches Equip-

ment überspielt alle lokalen Eigentümlichkei-
ten: Man kann von allen Orten aus die glei-
chen Kommunikationen tätigen. Raum und
Zeit, die herkömmlichen Grundkoordinaten
unserer Welt, werden vergleichsweise mar-
ginal.

d. Gewichtsverluste

Viertens unterliegt unser Verständnis von
Wirklichkeit auffallenden Gewichtsverlusten.
Das ist zunächst betreffs der Medienwirk-
lichkeit gut verständlich. Die Aufdringlichkeit
der dortigen Darstellungen erzeugt nicht
mehr Betroffenheit, sondern eher Indiffe-
renz. Die gleichen Bilder - wie immer ein-
drucksvoll sie arrangiert oder gemeint sein
mögen - am gleichen Abend auf mehreren
Kanälen oder während einer Reihe von Ta-
gen immerwiederzu sehen, nimmt ihnen ihre
Wirkung. Sensation plus Wiederholung er-
zeugt Indifferenz. Zudem präsentieren die
Medien ihre Bilder und Berichte ohnehin zu-
nehmend im Stil von Spiel und Unterhaltung.
Hinzu kommen Erfahrungen von Manipula-
tion. Denken Sie daran, wie die Berichte vom
Golfkrieg manchmal technologische Simula-
tionen für Wirklichkeit ausgaben, während
sie nie die Wirklichkeit von Opfern zeigten.
Oder denken Sie an die Pixel-Technik, die Bil-
der - vermeintliche Zeugnisse von Wirklich-
keit - perfekt manipulierbar macht. Gewiß:
„What You See Is What You Get" - aber was
man nicht sehen soll, bekommt man erst gar
nicht, und bei dem, was man bekommt, weiß
man nie, inwieweit es sich um ein Dokument
von Wirklichkeit oder bloß um ein Produkt
des Senders handelt.

Daher vertrauen wir der medial geprägten
Wirklichkeit nicht mehr so ganz. Wirklichkeit
verliert - ich beschreibe eine Tendenz - an Ein-
dringlichkeit, Gewichtigkeit und Verbindlich-
keit. Sie wird zunehmend als leicht, verän-
derlich, verschiebbar begriffen. Wir nehmen
die Wirklichkeit nicht mehr für ganz so wirk-
lich, nehmen sie nicht mehr ganz so ernst wie
ehedem. Unsere Einstellung zu ihr wird zu-
nehmend, wie wenn Wirklichkeit weithin Vir-
tualität oder Simulation wäre. Und das zieht
natürlich eine Veränderung unserer Verhal-
tens- und Handlungsweisen nach sich: auch
diese werden zunehmend simulatorisch, ver-
änderlich, austauschbar.

231
 
Annotationen