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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Welsch, Wolfgang: Immaterialisierung und Rematerialisierung: Zu den Aufgaben des Design in einer Welt der elektronischen Medien
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0234

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Es scheint mir unübersehbar, daß viele der
bedrängenden Phänomene der heutigen
Realität mit dieser medieninduzierten Vir-
tualisierung oder Derealisierung unseres
Wirklichkeitsverständnisses zu tun haben.
Falsch wäre es, dies nicht wahrhaben zu wol-
len -noch falscher allerdings, daraus eine pau-
schale Medienschelte abzuleiten, wie das in
derTradition muffiger Elemente der europäi-
schen Kulturkritik allzu oft geschieht.

e. Aufklärerische Wirkung der Medien-
erfahrung

Ebenso unübersehbar gehört zur Medien-
erfahrung auch eine aufklärerische Wirkung.
Im Umgang mit den Medien wird uns der
prinzipiell konstruktivistische Charakter un-
serer Wirklichkeitsauffassungen deutlicher
denn je zuvor. Wir begreifen, daß es Wirk-
lichkeit schlechthin gar nicht gibt, daß Wirk-
lichkeit vielmehr immer eine Konstruktion,
ein Kunstprodukt ist, und daß dies stets schon
so war - daß man es sich nur früher nicht ein-
gestehen mochte.8<9

Jede bloß ,konservative' Kritik an den Medi-
en im Namen ,prämedialer' und vorgeblich
unverrückbar geltender, absoluter Wirklich-
keitsauffassungen ist prinzipiell verfehlt. Sie
basiert noch einmal auf dem Irrtum, von dem
die moderne Medienerfahrung uns befreit
hat: der Auffassung, daß es Wirklichkeit un-
abhängig von Medien irgendwelcher Art
gebe und daß Wirklichkeit somit je etwas
anderes als eine Konstruktion sei. Die medien-
induzierte Aufweichung des absolutistischen
Wirklichkeitsverständnisses ist prinzipiell im
Recht - wie immer kritikabel im einzelnen die
Inhalte und Tendenzen der elektronischen
Medien sein mögen.

2. Revalidierungen

a. Kontrasterfahrungen

Nun gibt es aber noch einen grundsätzlich
anderen Typus, wie die Erfahrung elektroni-
scher Medien auf unser alltägliches Wirklich-
keitsverhältnis zurückwirkt. Davon will ich
nunmehr mit besonderem Nachdruck spre-
chen. Generell gesagt: Im Zug der Ausbrei-
tung elektronischer Medien kommt es gleich-
zeitig zu einer Revalidierung, zu einer neu-
erlichen Aufwertung von herkömmlichen

Erfahrungsformen außerhalb der elektroni-
schen Medien.

Gerade sofern Marshall McLuhans These
stimmt, wonach das Medium die Botschaft ist,
müssen den elektronischen Medien die spe-
zifischen Erfahrungsformen anderer Medien
fehlen. Zwar vermögen die eiektronischen
Medien auf alle Gegenstände zuzugreifen,
aber - wie jedes andere Medium auch - nur
nach ihrer eigenen Art. Anders gesagt: Die
elektronischen Medien bieten gewiß wunder-
volle Möglichkeiten. Aber nicht alle Möglich-
keiten. Und nicht nur die medialen Möglich-
keiten werden heute interessant, sondern im
Kontrast zu ihnen gewinnen auch Qualitäten,
die ihnen fehlen und die exklusiv anderen
Wirklichkeitsformen vorbehalten sind, neu-
es Interesse. Daher erleben wir heute - kom-
plementär zur Medienerfahrung - eine Auf-
wertung nicht-elektronischer Erfahrungs-
formen. Dieser Punkt ist in den Diskussionen
der letzten Jahre zu wenig beachtet worden.

b. Gegenoptionen

Gegenüber der elektronischen Hyperge-
schwindigkeit lernen wir die Trägheit neu zu
schätzen, gegenüber der universellen Beweg-
lichkeit una Veränderbarkeit die Wider-
ständigkeit und Unveränderlichkeit, gegen-
über dem freien Spiel das Beharren, gegen-
über dem Schweben die Massivität, gegen-
über der Veränderlichkeit die Konstanz und
Verläßlichkeit. Die elektronische Omniprä-
senz weckt die Sehnsucht nach einer ande-
ren Präsenz, nach der unwiederholbaren Prä-
senz des hic et nunc, nach dem singulären
Ereignis. Gegenüber der Intellektualität der
Prozessoren gewinnt die souveräne Ignoranz
der Materie neu an Bedeutung - und die Ein-
maligkeit einer unwiederholbaren Stunde
oder Begegnung oder die medienlose Ein-
samkeit fern von allen Kommunikations-
maschinerien.

Man kann die so beschriebenen Gegen-
tendenzen begrifflich auf Stichworte wie
Materie, Körper, Individualität, Einmaligkeit
zusammenziehen. Was Eigenraum und Eigen-
zeit beansprucht, was nicht austauschbar,
sondern unwiederholbar ist, wird uns neu
wichtig. So wies Botho Strauß darauf hin, daß
inmitten der überdrehten Kommunikation

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