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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Welsch, Wolfgang: Immaterialisierung und Rematerialisierung: Zu den Aufgaben des Design in einer Welt der elektronischen Medien
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0235

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der Dichter zuständig ist „für das Unvermit-
telte, den Einschlag, den unterbrochenen
Kontakt, die Dunkelphase, die Pause. Die
Fremdheit"JO Ähnlich schafft in Bertoluccis
Letztem Tango in Paris die Situation der Na-
menlosigkeit - im Gegensatz zum grassieren-
den Beziehungsgeschwätz - den Ort einer ein-
maligen Liebe.

Ich denke, daß wir gute Gründe haben, Stille
gegen Betäubung zu verteidigen; unsere ei-
gene, für andere unverfügbare Imagination
wieder höher zu schätzen als das sozial ge-
meinsame elektronische Imaginäre; und
ebenso unsere alternden und verletzlichen
Körper gegenüber der Perfektion und
Alterslosigkeit der synthetischen Körper neu
zu würdigen.

c. Telematische versus leibliche Welt

Gerade die mediale Untangierbarkeit, die
Souveränität und Eigensinnigkeit der Körper
entdecken wir gegenwärtig im Kontrast zur
Mediatisierung der Welt neu. Denken Sie
etwa an Nadolnys „Entdeckung der Langsam-
keit''^ oder an Handkes Lob der Müdig-
keitJ2

Der Leib ist ein konservatives Element, und
er bleibt eine Bedingung all unserer Vollzüge.
Von philosophischer Seite ist die Bedeutung
der Leiblichkeit als eines Gegengewichts ge-
gen die elektronischen Immaterialisierungs-
tendenzen in den letzten Jahren mehrfach
dargelegt worden. Lyotard hat die Frage ge-
stellt, ob man ohne Körper denken könne -
und hat dies verneintJ^ Dreyfus hat von
phänomenologischer Seite darauf hingewie-
sen, daß es kein Verstehen ohne Rückbindung
an Körperlichkeit und Alltagserfahrung
gibt J 4 Ähnlich haben Virilio und Baudrillard
von anthropologischen Prämissen aus unse-
re physischen Körper gegen das Projekt ihrer
meta-physischen, technologischen Umrü-
stung verteidigt. 15

Körperlichkeit, Individualität, Materialität
sind aber nicht bloß als Bedingungen oder
Grenzen unseres Denkens und unserer
Wirklichkeitserfahrung ins Feld zu führen; sie
sind nicht nur defensorisch geltend zu ma-
chen - und auch nicht einfach offensiv. All das
sind noch immer Formen einer Funktio-

nalisierung. Sondern diese Momente wären
in ihrer Selbstheit anzuerkennen und zur
Geltung zu bringen.

Der Traum mancher sich besonders avanciert
dünkender Zeitgenossen - auch Designer -
von einer möglichst hardwarefreien, gegen-
standslosen Welt ist, anthropologisch be-
trachtet, prinzipiell verfehlt. Diese umgekehr-
te Vision einer Neutronenbombe - während
diese alles menschliche Leben auslöschen soll-
te, will man hier die Gegenständlichkeit eli-
minieren - gehört zum Verirrungsarsenal fu-
turistischer Imaginationen.

d. Komplementarität

Um nicht mißverstanden zu werden: Natür-
lich meine ich diese Revalidierung des Indivi-
duellen und Körperlichen nicht als simples
Gegenprogramm gegen die künstlichen Pa-
radiese der elektronischen Welten, sondern
als Komplementärprogramm zu ihnen. We-
der verneinen diese Gegenmomente die Fas-
zination der elektronischen Welten - sie bil-
den vielmehr ihren Gegenpol -, noch geht es
einfach um eine Rückkehr zu sinnenhafter
Erfahrung, wie sie vor-elektronisch gewesen
sein mag, sondern diese Revalidierungen sind
von der Erfahrung elektronischer Medien
auch gefärbt. Und es gibt offensichtlich auch
Verbindungen zwischen beiden. Manchmal
ist natürliche Erfahrung just das, worauf auch
die Virtuality-Liebhaber aus sind. Mein Lieb-
lingsbeispiel sind die Elektronik-Freaks von
Silicon Valley, die abends zur Küste fahren,
um die in der Tat unvergleichlichen kalifor-
nischen Sonnenuntergänge zu betrachten,
bevor sie dann an ihren Homecomputer zu-
rückkehren und in die künstlichen Paradiese
des Internet eintauchen. 1^

3. Wandern zwischen Wirklichkeiten

Wir sollten, denke ich, in beiden Wirklichkei-
ten leben. Als heutiger Mensch sollte man sich
in den elektronischen Welten lustvoll bewe-
gen können - aber nicht nur in ihnen, son-
dern auch in älteren, anderen und vielleicht
zukünftigen Welten. Und Übergänge zwi-
schen diesen Welten sind möglich. Liebhaber
des elektronisch Virtuellen beispielsweise su-
chen, wie die Sonnenuntergänge zeigen,
virtualitätsnahe Realität. Digitale Analphabe-

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