Die Konstanzer Bildschnitzer der Spätgotik und ihr Verhältnis zu Niklaus Gerhaert 5
Wir sehen jetzt auch, woher der Schnitzer des Steinigungsreliefs seinen Stil hat: er muß
ein Gehilfe des Meisters der beiden oberen Figuren sein. Wir haben hier also einen Fall, wo
Relief und Bekrönung nicht von derselben Hand ausgeführt sind.
Die Nordwangen
Die Hochwange der Nordseite (E 27-29) zeigt die A u $ t r e ib u n g a u s d e m P ar a - Abb. 22
dies im Hauptrelief308, darüber die römischen Märtyrerheiligen Johannes und Paulus
und zwei flötende Engel zu Seiten des Fensters. Die Wange läßt einen neuen Schnitzer
erkennen (E). Dieser Schnitzer scheint wenig Erfindungsgabe gehabt zu haben: Die Szene
der Austreibung ist aus graphischen Vorlagen zusammengetragen307. Die einzelnen Ver-
satzstücke stoßen hart aneinander; z. B. der Baumstamm schmiegt sich nicht im geringsten
an den figürlichen Teil der Komposition (wie etwa der Weinstock auf E 31). Die von an-
dern Wangenreliefs entlehnten Felsenplatten des Bodens verlieren sich nach oben im glatten
Reliefgrund, der wohl als Himmel gedacht ist. Die heikle Stelle des Horizonts wird dabei
einfach hinter den Arm des Engels und Adams verlegt und so vertuscht.
Trotz alledem ist die Ausführung des Reliefs recht gewandt. Im Vergleich zum „Meister“
des Kindermords (A) bildet der Schnitzer seine Figuren organischer; er versteht sie auch zu
beseelen, ganz leise und zurückhaltend, nicht immer der Situation angemessen (Vertrei-
bung!), aber doch überhaupt. Die Figuren sind schlank und zart, im Wesen still, oft in sich
gekehrt. Die Köpfe sind breit, das Gesicht ist ziemlich flach und sitzt ganz vorne am Kopf,
so daß große Wangenflächen entstehen und ein weiter Abstand zwischen Auge und Ohr,
bzw. der Stelle, wo das Ohr zu denken ist. Die Backenknochen sitzen weit oben und außen,
in der Nähe der äußeren Augenwinkel. Die Augen sind, wenn der Blick gesenkt ist, in den
Winkeln leicht geschweift. Das Haar bildet füllige, mähnenartige Kappen. Die Hände sind
ziemlich roh geformt. Die Gewandfalten laufen in großzügigen Bahnen, bei den flötenden
Engeln fast ohne Knick vom Halsausschnitt bis zum Boden übers ganze Gewand, beim Erz-
engel vom Gürtel bis zum Boden.
Die Wange mit Moses vor dem Dornbusch (E 26) ist an die Hochwange an-
gefügt (vgl. E 4). Auf der Südseite des Gestühls waren Hochwange und angefügte Wange
von derselben Hand. Ist es hier auf der Nordseite vielleicht ebenso?
Wir betrachten zuerst die Aufsatzfiguren (E 43 a). Der Abraham links hat tatsächlich den
gleichen Kopftyp und die gleiche Stille im Ausdruck wie die Figuren der Hochwange. Das
breite Gesicht sitzt maskenartig flach an der Vorderseite des Kopfes, mit weitem Abstand
zwischen Auge und Ohr. Die Backenknochen liegen dicht an den äußeren Augenwinkeln,
darunter sind große Wangenflächen. Der Schnitt der Augen ist wie beim Adam (E 27 S)309
Auch die großen, starren Faltenstege kennen wir von der Hochwange.
Ganz anders ist allerdings der Melchisedek (rechts). Das Figürchen ist beweglicher, ner-
vöser. Die Falten verlaufen lockerer und reichlicher geknickt310. Der runde, kernige Kopf
ist kräftig durchmodelliert, mit realistischer Kennzeichnung aller Muskeln und Hautfalten.
Über dem Antlitz liegt keine abgeklärte Stille — im Gegenteil, hier konzentriert sich die
nervöse Beweglichkeit der ganzen Figur.
Es besteht kein Zweifel, daß hier verschiedene Kräfte am Werk waren, obwohl wir bis-
her keiner derartigen Arbeitsteilung begegnet sind. Der Abraham stammt vom Schnitzer
der nördlichen Hochwange (E), der Melchisedek aber von dem begabten Schnitzer, der die
Bekrönung der Achorwange (E 24) ausgeführt hat (D); wir konnten dort dieselben Merk-
male feststellen.
Welcher Schnitzer hat nun aber das Relief ausgeführt? Beim Anblick der Landschaft
denkt man nicht an den Schnitzer der Hochwange (E), aber die Figuren sind doch in seiner
Art ausgeführt und nicht in der Art des Mitarbeiters. Es gilt dasselbe für sie, was über den
309 Das Vertreibungsrelief beurteile man weniger nach der spiegelnden Blitzlichtauf-
nahme E 27, sondern nach der günstiger beleuchteten Abbildung auf dem Schutz-
umschlag des Eschweilerschen Buches (im folgenden £ 27 S genannt)!
310 Zwar kennt auch dieser Schnitzer, wie wir sehen werden, lange, gerade Faltenstege,
doch verlaufen sie dann straffer, energischer (vgl. die Röhrenfalten der Figuren auf
E 34, 35).
Wir sehen jetzt auch, woher der Schnitzer des Steinigungsreliefs seinen Stil hat: er muß
ein Gehilfe des Meisters der beiden oberen Figuren sein. Wir haben hier also einen Fall, wo
Relief und Bekrönung nicht von derselben Hand ausgeführt sind.
Die Nordwangen
Die Hochwange der Nordseite (E 27-29) zeigt die A u $ t r e ib u n g a u s d e m P ar a - Abb. 22
dies im Hauptrelief308, darüber die römischen Märtyrerheiligen Johannes und Paulus
und zwei flötende Engel zu Seiten des Fensters. Die Wange läßt einen neuen Schnitzer
erkennen (E). Dieser Schnitzer scheint wenig Erfindungsgabe gehabt zu haben: Die Szene
der Austreibung ist aus graphischen Vorlagen zusammengetragen307. Die einzelnen Ver-
satzstücke stoßen hart aneinander; z. B. der Baumstamm schmiegt sich nicht im geringsten
an den figürlichen Teil der Komposition (wie etwa der Weinstock auf E 31). Die von an-
dern Wangenreliefs entlehnten Felsenplatten des Bodens verlieren sich nach oben im glatten
Reliefgrund, der wohl als Himmel gedacht ist. Die heikle Stelle des Horizonts wird dabei
einfach hinter den Arm des Engels und Adams verlegt und so vertuscht.
Trotz alledem ist die Ausführung des Reliefs recht gewandt. Im Vergleich zum „Meister“
des Kindermords (A) bildet der Schnitzer seine Figuren organischer; er versteht sie auch zu
beseelen, ganz leise und zurückhaltend, nicht immer der Situation angemessen (Vertrei-
bung!), aber doch überhaupt. Die Figuren sind schlank und zart, im Wesen still, oft in sich
gekehrt. Die Köpfe sind breit, das Gesicht ist ziemlich flach und sitzt ganz vorne am Kopf,
so daß große Wangenflächen entstehen und ein weiter Abstand zwischen Auge und Ohr,
bzw. der Stelle, wo das Ohr zu denken ist. Die Backenknochen sitzen weit oben und außen,
in der Nähe der äußeren Augenwinkel. Die Augen sind, wenn der Blick gesenkt ist, in den
Winkeln leicht geschweift. Das Haar bildet füllige, mähnenartige Kappen. Die Hände sind
ziemlich roh geformt. Die Gewandfalten laufen in großzügigen Bahnen, bei den flötenden
Engeln fast ohne Knick vom Halsausschnitt bis zum Boden übers ganze Gewand, beim Erz-
engel vom Gürtel bis zum Boden.
Die Wange mit Moses vor dem Dornbusch (E 26) ist an die Hochwange an-
gefügt (vgl. E 4). Auf der Südseite des Gestühls waren Hochwange und angefügte Wange
von derselben Hand. Ist es hier auf der Nordseite vielleicht ebenso?
Wir betrachten zuerst die Aufsatzfiguren (E 43 a). Der Abraham links hat tatsächlich den
gleichen Kopftyp und die gleiche Stille im Ausdruck wie die Figuren der Hochwange. Das
breite Gesicht sitzt maskenartig flach an der Vorderseite des Kopfes, mit weitem Abstand
zwischen Auge und Ohr. Die Backenknochen liegen dicht an den äußeren Augenwinkeln,
darunter sind große Wangenflächen. Der Schnitt der Augen ist wie beim Adam (E 27 S)309
Auch die großen, starren Faltenstege kennen wir von der Hochwange.
Ganz anders ist allerdings der Melchisedek (rechts). Das Figürchen ist beweglicher, ner-
vöser. Die Falten verlaufen lockerer und reichlicher geknickt310. Der runde, kernige Kopf
ist kräftig durchmodelliert, mit realistischer Kennzeichnung aller Muskeln und Hautfalten.
Über dem Antlitz liegt keine abgeklärte Stille — im Gegenteil, hier konzentriert sich die
nervöse Beweglichkeit der ganzen Figur.
Es besteht kein Zweifel, daß hier verschiedene Kräfte am Werk waren, obwohl wir bis-
her keiner derartigen Arbeitsteilung begegnet sind. Der Abraham stammt vom Schnitzer
der nördlichen Hochwange (E), der Melchisedek aber von dem begabten Schnitzer, der die
Bekrönung der Achorwange (E 24) ausgeführt hat (D); wir konnten dort dieselben Merk-
male feststellen.
Welcher Schnitzer hat nun aber das Relief ausgeführt? Beim Anblick der Landschaft
denkt man nicht an den Schnitzer der Hochwange (E), aber die Figuren sind doch in seiner
Art ausgeführt und nicht in der Art des Mitarbeiters. Es gilt dasselbe für sie, was über den
309 Das Vertreibungsrelief beurteile man weniger nach der spiegelnden Blitzlichtauf-
nahme E 27, sondern nach der günstiger beleuchteten Abbildung auf dem Schutz-
umschlag des Eschweilerschen Buches (im folgenden £ 27 S genannt)!
310 Zwar kennt auch dieser Schnitzer, wie wir sehen werden, lange, gerade Faltenstege,
doch verlaufen sie dann straffer, energischer (vgl. die Röhrenfalten der Figuren auf
E 34, 35).