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Deutsche Kunst: illustrirte Zeitschrift für das gesammte deutsche Kunstschaffen ; Centralorgan deutscher Kunst- u. Künstlervereine — 3.1898/​1899

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Nr. 14 (1. Juni 1899)
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https://doi.org/10.11588/diglit.55187#0322
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268

Deutsche Kunst.


H. van de Velde, Speisezimmer (Helles Teakholz).
Die Stilformen des Alterthnms und des Mittelalters wie
ihrer gejammten Ausläufer beruhen auf dein mcchanifchen Aus-
gleich zwischen Last und Tragfähigkeit, d. h. auf den Gesetzen
der unorganischen Welt. Stein, Metall und Holz erscheinen als
nach dem Muster der Architektur aufgebautes Gerüst, das die
Zierkunst mit phantastischem Ornament überspannt, während der
guten Zeit gliedernd und statische Verhältnisse andeutend, während
des Verfalls den Aufbau regellos überwuchernd. Das Material
behält in der äußeren Erscheinungsform feinen Charakter, be-
hauen, gegossen und geschnitzt. Karyatide, Widderkops und
Löwenklaue bleiben mechanische Stützen, die, als Träger ver-
wendet, ihre lebendige Spannkraft verloren haben.
Hier hat Van de Velde's Kunst einen einschneidenden Wandel
geschaffen. Das Gerätst, ob Stuhl, Tisch oder Schrank, wird
seiner Beweglichkeit entsprechend zu einem federnden Orga-
nismus, dessen Thätigkeit sich in lebensvollem Lntgegenschmiegen
äußert. Will man durchaus an dem Einfluß des Materials fest-
halten, so sind als stilbildend die elastische Lisenkonstruktion und
das gebogene amerikanische Holz hervsrzuheben. Gußofen und
Schnitzmeffer aber haben die dem Stofs innewohnende Kraft nicht
vernichtet, sondern dem Aweckbegriff lebensvoll dienstbar ge-
macht. Die Tischbeine spreizen sich, durch klammern gelenkartig
verbunden, entweder geradlinig der Platte entgegen oder schwellen
muskelkräftig zu ihr empor. Geffnet sich seitlich an einem Noten-

oder Bücher
schrank eine
Klappe, so
schiebt sich ein
Scharnier her
vor, das die
gleitende Be
wegung nicht
nur symbolisch
andeutet, son
dern wirklich
ermöglicht.
Die untere
Ouerleiste des
Stuhles ver-
bindet nicht
mechanisch die
Beine, sie
stemmt sich dem
schräg auf
strebenden
Vorderfuß fe
dernd entge-
gen; die Arm
lehne bewegt
sich in schönem
Schwünge dem
verlängerten
Stuhlbein ent
gegen und die
Stuhllehne
schwingt sich im
Flachbogen
über den Sitz
hin. Selbst die
Polsterung ge
wiunt eigenartiges Leben. Sie spannt
sich in den Seitentheilen straff in den
Nahmen hinein, um den Körper in
Sitz und Lehne weich schwellend auf
znnehmen.
Was man die Linienführung van
de velde's genannt bat, ist nicht der
Grundzug seines Schaffens, sondern
eine Folge seiner eigenartigen Tektonik.
Der geschwungene Umriß, die flache
und doch kräftige Spannung seiner profilirung ergeben sich von
selbst aus dem lebensvollen Organismus seiner Schöpfungen.
Da ist nirgends starre, stoffliche Ruhe, sondern überall muskel-
kräftige Bewegung. Die Glieder seiner Geräthe straffen und
dehnen sich im Bewußtsein der ihnen innewohnenden Kraft, die
im Gegensatz zum englischen Stil keine dürftigen Formell auf-
kommen läßt.
Wie jeder neuen Kunst, ist auch der van de velde's eine
gewisse asketische Strenge und Zurückhaltung eigen. Sic ver-
schmäht die Hilfe des gefälligen Ornamentes. Umriß und Farbe
sind ihre wesentlichen Darstellungsmittel. Wo die Zierkunst ein-
mal herangezogen wird, hat sie sich dem Organismus bescheiden
anzupassen, sich ihm einfügend oder die Richtung seiner Spann-
kraft erläuternd. Dagegen spielt eine große Rolle in der Innen-
dekoration des belgischen Reformators die harmonische Zusammen-
stimmung von Linie und Färbung. Die gewöhnlich schablonicrte
Tapete, die Flachdecke und die dürftige voute, der langweilig
gemusterte parquetfußboden sind für die Möbel van de velde's
unmöglich. Auch sie müssen eigenartiges Leben ausstrahlen in
bewegten Wellenlinien und aufstrebenden Blumen, um zu einem
harmonischen behaglichen Ganzen sich zu gestalten, das von starrer
Ruhe gleich weit entfernt ist wie von zuckender Unrast.
Die Möbelkunst Van de velde's ist nicht konstruktiv im schul-
mäßigen Sinne des Wortes, sie ist lebensvoll elastisch. Aus der
 
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