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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,2.1918

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Heft 8 (2. Januarheft 1918)
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Aus dem Briefwechsel zwischen einem Deutschen und einem Neutralen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14372#0061
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nehmen und doch handeln könnsn, wie es in seiner allerdings wenig moral-
beschwerten Art der Engländer tnt. Er ist hoffentlich nicht der komnrende, aber
leider bestimmt der heute herrschende Typus des Weltbewohners. In Deutschland
aber — nnd damit deute ich auf die »Quelle« — läßt sich auch der Gebildete noch
erstaunlich oft seine Meinung von Zeitungsaufsätzen, von fettgedruckten Äberschrif-
ten, vou Volksrednern, von Durchhalte- oder von Friedenspredigern machen,
selbst wenn er eigne Informationen haben und sie mit eignem Denken selb-
ständig verarbeiten könnte. Ich gewann diesen Eindruck: die Regierung selbst
könnte in Deutschland ein halbes Dutzend sehr unangenehmer Wahrheitsn ruhig
veröffentlichen; wenn sie ihre Besprechung verbieten würde, sähe das deutsche
Volk den Himmel doch bald wieder blau — es würde diese Wahrheiten als solche
vielleicht glauben, aber ihre Tragweite nicht verstehen. So sehr haben die Macher
der öffentlichen Meinung jetzt alle Hebel in der Hand, weniger die Regierung als
alle jene gutgläubigen und minder gutgläubigen Kriegspropagandisten, die so viel
einfacher und mit so viel geringerem Einsatz spielen als etwa Elemenceau in Frank--
reich. Denn Clemenceau riskiert seinen Sturz und Frankreichs Selbstbewußtsein,
die deutschen Iusqu'ä-boutisten aber riskieren nur einige Millionen an Propa-
gandageld und den Zusammenbruch einiger weltgeschichtlich unwichtiger Kriegs-
ziel-Phantasien.

,er Deutsche: Ich habe über Ihren letzten Vrief ein wenig lächeln müssen.
^Dachte ich doch gleich, daß hinter Ihren Beschwerden wieder einmal der Ein-
druck stecken müßte, den Alldeutsche, Annexionisten, Kriegspropagandisten, Vater-
landsparteiler usw. meist im Ausland erregen. Der Eindruck, als habe man in
Deutschland die Vernunft bis zur blutigen Vernichtung aller Franzosen und Eng-
länder eingesteckt. Aber das ist nicht so. So laut jene Kreise, die übrigens wirklich
viele Gutgläubige umschließen, heute auch auftreten mögen, so viele Zehn-
und Hunderttausende sie werben mögen, sie herrschen doch nicht, und sie sind
auch lange nicht so mächtig wie es scheint. Sie haben die lockenderen Töne, aber
nicht die, welche das tiefste, dauernde Vertrauen erwerben; haben Geldmillionen,
aber nicht ein Dutzend Gedanken; haben Phantasie, aber wenig Wirklichkeitsinn,
Gefühl aber kein Feingefühl und, wie Sie richtig sagen, kein Weltgefühl. So
können sie wohl vorübergehend Erregung und Bewegung machen — schädliche unü,
vergessen Sie das nicht!, auch nützliche — aber sie können nicht ins Rad der
Weltgeschichte greifen.

M^e r Neutrale: Es ist wahr, ich habe mich verleiten lassen, von einer tzaut-
-^krankheit zu schwatzen, obwohl ich von einer, wie mir scheint, organischen Krank-
heit sprechen wollte. Änd so hatten Sie Recht, mir meinen Ausbruch wider die
Kriegspropagandisten unter die Nase zu reiben (so sagt man ja wohl?). Aber
ich komme zurück auf das, was ich zuerst meinte, die deutsche Kurzsichtigkeit.
Man hat anfangs bei Ihnen viel »die große Zeit« im Munde geführt. Wenn
heute eine Revolution ausbricht, ein König gestürzt, ein Heer vernichtet, eine
Staatsform umgestoßen wird, so fehlt es in der deutschen Presse gewiß nicht an
großen Worten über die »Tragik« und den »Ernst« dieser Ereignisse. Aher je
öfter derlei geschieht, um so mehr würden diese Worte abgenutzt. Änd trotz alle-
dem sieht man bei Ihnen das Erleben wie eine Art Zufall an. Ein enormer,
kolossaler Zusall, das ist für so viele Deutsche — ihre Zeitungen beweisen es —
der Sinn der Geschichte. Eine Kette von Zufällen und am Ende ein Frieden,
der merkwürdigerweise ein günstiger Zufall sein soll, nachdem man allerdings mit
bewunderungswürdiger Kraft den kleinen Gott des Zufalls vorher militärisch
bearbeitet hat. Fragen Sie sich dagegen so: wo wurde in Deutschland die russische
Revolution als ein tief gesetzmäßiges Geschehen im Verlauf der großen Welt-
befreiung empfunden, welche im Sinn dieses Krieges ist? Wo wurde ein stilles
Freudenfest gefeiert, nicht weil diese Revolution Friedenshoffnungen erweckte,
sondern weil sie — vielleicht — Glück und Freiheit für ein kommendes junges
Menschheitsvolk bedeutet? Bei einigen Sozialdemokraten, ja! Aber sonst? Wo
 
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