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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,2.1918

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Heft 8 (2. Januarheft 1918)
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Aus dem Briefwechsel zwischen einem Deutschen und einem Neutralen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14372#0062

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sind die Tausende, die aufhorchen und plötzlich das innerpolitische Geschehen in
Deutschland mit erwachendem Geist sehen müßten, als Naumann das Wort
sprach, dieser Friedrich Naumann, der am Ende kein Genie, aber ein sehr über-
legener und tiefer Schauer und Denker ist? Wo sind die Hunderte, die der Masse
sagen: lebt wirtschaftlich nicht in den Tag hinein, spart, denn es kommt in
zehn Iahren noch keine leichte Zeit? Wo die Hunderte, die ein Programm der
künftigen Steuerpolitik mit aller Kraft durchdenken, Sittliches und Wirtschaft-
liches zugleich erwägend, da dann doch die Bezahlung der „spielend aufgebrachten"
Milliarden wahrlich kein Spiel sein wird? Wo ist überhaupt in der Menge
der Gebildeten der Wille zu einer neuen Wirtschaftsgesinnung, wie sie die voll-
kommen neue Zeit gebieterisch fordern wird, während diese Zehntausende immer
noch wähnen, an den Iuli eines schönen Tagss einfach wieder „anzuknüpfen"?
Wo blieb auf die ersten pazifistischen Worte Wilsons, des Papstes, Lzernins,
Bethmann Hollwegs der Widerhall, der ja kritisch hätte sein dürfen, aber nicht so
oberflächlich, da nun einmal die kriegszerwühlte Welt nicht weiter wettrüsten
und zugleich sich nähren kann? Da mindestens Deutschland oder die Zentral-
mächte es nur können, wenn sie auf menschenwürdiges Leben verzichten wollen?
Mo war, um ein letztes Beispiel zu nennen, eine politische Würdigung des Reichs-
tagsbeschlusses über die Friedensbereitschaft, das heißt: wo war die feste, ruhige
Haltung des Volkes, welche jenem Beschluß allein Sinn geben konnte, während
das Daran-herum-zerren und -deuten, das Schweigen und Sich-treiben-lassen
der Mehrheit und das zuchtlose Schreien der Minderheit ihn zum Spott und
Schaden machte, dieses politische Gebaren, das eine völlige Unreife der öffentlichen
Meinung bekundete? Wo war, mit andern Worten, die Einsicht, daß jeder Schritt
zur „Parlamentarisierung" heute Sache des ganzen denkenden Volkes sein müßte,
da man eben leider die Reichstägler ganz allein ihr Spiel schlecht und recht trei-
ben und nur einiges Unbehagen über die neumodischen Gebärden merken ließ,
als ob es sich um eine neue Barttracht der Geheimen Regierungsräte und nicht
um das Schicksal vieler Geschlechter handelte? — Allzusehr hat es an alledem ge-
fehlt. Die Sache des Menschen und die der Msnschheit sind in Deutschland schlecht
vertreten, nicht einmal die Sache Europas hat bei Ihnen unentmutigte Anhängcr.
Dafür jedoch sehe ich leider die Zahl derer ständig wachsen, welche das Welt-
geschehen auffassen möchten als ein vergrößertes privatwirtschaftliches Geschäft,
bei dem durch irgendwelche Mittel und Mittelchen doch schließlich etwas „Greif-
bares" „herauskommen" muß. So wenige wollen sehen, daß nach dem Welt-
friedensschluß sehr andre Bedingungen für das Dasein der Völker gelten werden als
nach Mb, j866, j87j, 1878, 1I05, daß die Zeit der Einstaats-Kleinlichkeit vorüber
ist und nun in Kontinenten, nicht in Provinzen und Provinzteilen gedacht wer-
den wird ..." ^

LZ

^^er Deutsche: Wieder, verehrter Herr, gebe ich Ihnen im ganzen Recht, ob-
^E^wohl Sie im einzelnen uns Anrecht tun. Die Sache der Menschheit? — in deut-
schsr Sprache wurde sie meines Wissens während des Krieges am reinsten ver-
kündet, und zwar von Erwin Hanslik. Die Sache Europas? Wer hat sie so tief
erfaßt wie Rudolf Pannwitz, ein Deutscher? Die Sache des Menschen? Gehen
Sie in ,freideutsche" Kreise und hören Sie, wie man dort um sie ringt, oder
blicken Sie in Walter Rathenaus Bücher! Von Naumann, von einigen Sozial-
demokraten sprechen Sie selbst. Meinen Sie nun, das seien alles „Ausnahmen"?
Dann vergleichen Sie unsre 'Nicht-Ausnahmen mit den Nicht-Aüsnahmen der
andern kriegführenden Völker. And vergessen Sie nicht, daß auch wir unsre Be-
sten im Schützengraben stehen haben, daß wir auch nicht morgenfrisch dahin lebten,
sondern mehr als drei Wcltstunden blutig-schwerer Kriegsarbeit hinter uns haben,
daß von jenseit unsrer Grenzen uns nicht weltkundig froher Iuruf kam, sondern
ivüstes Geschrei, daß wir im Kampf stehn nicht nur um unsern Staat, sondern
um unser tägliches Brot, daß wir vor sM allerdings die „Welt" nicht kannten,
sondern doppelt — von unsern Nachbarn und von unsern Einrichtungen -- em->
gezwängt wurden, so daß wir die Glieder nur im Dienste jener Privatgeschäfte
 
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