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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,2.1919

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Heft 8 (2. Januarheft 1919)
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Um den Sozialismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.14376#0059
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mit dem will der Sozialismus nicht parlamentieren oder paktiereni er mag
«in vortrefflicher Mensch sein, aber die Zeit wird über ihn hinweg gehen. Wer
die Latsachen deutlich sieht, wird auch nicht Anstoß nehmen an den beiden
andern Worten, die wir oben gebraucht haben: Lebens- oder Wirtschaftordnung
und Glücklosigkeit. Lr wird weder einwenden, an der bloßen Wirtschaftordnung,
an „Materiellem" also könne doch wohl nicht alles hängen — denn er wird
bald sehen, daß eben doch an diesem bißchen Geld und „äußerem" Gut, wenn
nicht alles, so doch viel mehr hängt, als er gemeint hat. Noch wird er anderseits
einwenden, auf „Glück" komme es doch nicht an, wie denn zum Beispiel das
Lhristentum lehre, das Glück liege nur im Innern des Menschen oder jenseits
dieser Erde, oder Nietzsche, es liege im Schaffen und Werken, aber nicht im
Sein, Glück sei ein tierisches Ideal — denn er wird sehen, daß auch das Glück
unsres Innern und das Glück des werktätigen Handelns mit abhängt von
äußern Nmständen, obgleich es gewiß nicht mit dem Einkommen und Vermögen
wächst und abnimmt, er wird anch sehen, daß die ungeheure Mehrheit der
Menschen trotz aller tröstlichen und kräftigenden Lehren und Aberlieferungen
von einem gewaltigen Verlangen nach Glück erfüllt und getrieben ist, und
daß wir da nicht durch Predigten und Gedanken, sondern nur durch Taten
und Einrichtungen helfen können, gleichviel ob wir damit ihr „Glück" be-
zwecken oder vielleicht ganz anderen Zielen nachstreben.

Als Träger des Sozialismus sind wir gewohnt, die „Massen" anzusehen, das
„Proletariat", die „arbeitenden Klassen". Das ist insofern richtig, als sie Glück-
losigkeit und Angerechtigkeit am herbsten am eignen Leibe, an der eignen Seele
empfinden, chr Schrei nach neuer Ordnung ist darum am lautesten, ihr Wille
am gespanntesten, ihre Einmütigkeit am innigsten, ihre Gemeinbürgschaft mld
Organisation am entwickeltsten. ALer es sagt nicht genug, denn sehr viele andere
haben zwar nicht s o gelitten wie sie und haben nicht so gelitten wie sie,
sind aber doch zu Trägern des Sozialismus geworden, aus „Mitleid", aus
sittlicher Aberzeugung, aus Scham, aus Demagogentrieb, aus Machtgier, aus
wildem oder mildem Drange nach Gerechtigkeit — gleichviel, auch sie sind Sozia-
listen. Und Erwählte von diesen sind die Augen, die Gehirne, die Hände der
Masse geworden, sie haben die Shsteme des Sozialismus ersonnen, habeil die
Massen organisiert, geführt, gebildet, geeint, gestärkt und in ihrem Sinne auf-
geklärt. Ihnen begegnen wir heute in der Führerschaft der sozialistischen, auf
reichsdeutschem Boden: der sozialdemokratischen Parteien. Sie sind die deutlich
von den Massen getrennte zweite Schicht der Träger des Sozialismus. Hängen
sie mit jenen nach „unten" zusammen, so nach „oben" mit den tausend „sozial"
Denkenden aller andern Arten und Richtungen, welche heute unter den „Ge-
bildeten" leben, aber sich aus verschiedensten Gründen der sozialistischen Bewe-
gung nicht anschließen mögen. Nicht die letzte Frage der nahen Zukunft wird es
sein, ob diese scharfe Scheidelinie zwischen erklärten Sozialisten nnd einzel-
gängerischen Sozialethikern und sozial Fühlenden Lestehen bleibt. Ist wirklich
das Panier des Sozialismus der Ruf nach Gerechtigkeit, so wird diese Scheide-
wand ins Wanken kommen, je nnabweisbarer an Alle die Forderung her-
antritt, dic Wirklichkeit endlich ohne rosenrote Brillen und ohne Vorurteil zu
betrachten. Gehen wir aber wirklich sozialistischen Zuständen entgegen, so wird
sie fallen. Denn je deutlicher sich die Anabwendbarkeit dieser Zukunft zeigt,
um so mehr Menschen werden an sie „glauben", werden sich mit ihr beschäftigen,
und da die werdenden Zustände ja allen gemeinsam sein werden, so sammelt
und festigt sich in gemeinsamer Anschauung dann ganz von selbst die Menge
der Gleiches Erlebenden — „Masse" und „höhere Schichten" — zu einer Einheit.
Sie werden ein organisiertes Volk, eine „Freibürgerschaft", eine Staatsbürger-
schaft des sozialistischen Staates, und mit der Verschmelzung der Menschen
werden allmählich vorher „verbotene" Anschauuugen „erlaubt", ja Gemeingut,
verschwindet unvermerkt die Angst vor dem „entfesselten Proletariat", der
dumpfe Haß der „Anterdrückten", verschwinden — die Klassengegensatze.

(Weitere Aufsätze über Arsachen und Ziele des Sozialismus folgen.)
 
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