Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,2.1919

DOI Heft:
Heft 8 (2. Januarheft 1919)
DOI Artikel:
Um den Sozialismus
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14376#0058

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
gehend beschäftigen. Nnr zweierlei bitte ich den Leser festzuhalten: Lrstens, daß
die gegenwärtigen Kriegsnot-Zustände nicht sozialistische Zustände schlechthin
sind,* daß also ein E r f a h r u n g s urteil über Lebensordnung und Wirtschaft-
betrieb des Sozialismus heute von niernand abgegeben werden kann. Zweitens:
daß die sozialdemokratische Parteidoktrin, wie sie vor dem Kriege war, nicht
schlechthin den Sozialismus bedeutet; diese Doktrin dürfte vielmehr eine ganz
tiefgehende Wandlung in absehbarer Zeit erfahren. Vermeiden wir solchergestalt
die Schlla begrifflich-abstrakter Worthecheleien, so wollen wir weiterhin auch
möglichst die Charhbdis vermeiden, die von der andern Seite droht: daß wir
etwa mii ungezügelter Phantasie oder Phantastik in den zahllosen Zukunft-
möglichkeiten herumwühlen möchten, ohne auf ihren größeren oder geringeren
Grad von Wahrscheinlichkeit zu achten.

L»vber ehe wir überhaupt von der Zukunft sprechen, möge einiges über Quelle
-<E-und Sinn des Sozialismus gesagt sein. Der Sozialismus als politische und
als geistige Bewegung entspringt aus einer einzigen Tatsache, die allerdings
zehntausendfach kompliziert ist, aus der Glücklosigkeit der ungeheuren Mehrheit
aller Menschen, oder mit andern Worten: aus der Ilngerechtigkeit der Lebens-
und zwar im besondern der Wirtschaftordnung. Schon solche einfachen Sätze
erwecken freilich in unserer Zeit viel Widerspruch. Aufgewachsen in Anschau-
ungen, die man unpassender- und sonderbarerweise „bürgerlich" zu nennen Pflegt,
werden die meisten Leser dieser Zeitschrift etwa das Wort „Ungerechtigkeit"
mit starkem Zweifel aufnehmen. Was soll an unsrer Wirtschaftordnung un°
gerecht sein? Gilt nicht, mindestens in Friedensjahren, überall Gesetz und
„Recht"? Ist es nicht „gerecht", daß der Leistungsfähigere auch mehr genießt
und vcrdient als der minder Begabte? Soll «s etwa gerecht sein, alle Menschen
nach einem und demselben Schema zu behandeln, da sie doch offenkundig so
verschieden wie nur möglich sind? So drängen sich die Gegenfragen. Fch will
sie nicht im einzelnen, sondern nur insgesamt beantworten. Und zwar so:
was „gerecht" sei und was nicht, darüber ist zwar nicht jede Aussprache, aber
jeder Beweis-Streit müßig. Die Forderung nach Gerechtigkeit erhält ihren Inhalt
von den ethischen Grundanschauungen her, die ein jeder in sich hat, und diese
sind von Person zu Person verschieden. Wenn nun auch nicht auf zwanzig Mil-
lionen verschiedener Menschen zwanzig Millionen verschiedener Anschauungen
über Gerechtigkeit entfallen, vielmehr eine verhältnismäßig kleine Zahl von
Gruppen zu je ein paar hunderttausend Trägern je eine Ansicht über Ge-
rechtigkeit haben, so können wir uns eben doch nie auf wirklich allgemeine
oder gar „beweisbare" Grundanschauungen berufen und unterlassen es daher,
von irgend einem angenommenen Stanüpunkt aus die „Ungerechtigkeit" irgend-
welcher Zustände nachweisen zu wollen. Dazu aber ist es an der Ieit: uns
darüber klar zu werden, daß unsre Anschauungen über Gerechtigkeit nicht aus
unscrm Herzen stammen und daß sie meist nicht die einzige Festigkeitprobe be-
standen haben, die es für sie gäbe: die der Erfahrung, die des Vergleichs mit der
Wirklichkeit. Von tausend Anschauungen über Gerechtigkeit sind neunhundert-
neunundneunzig erlernt, ohne Prüfung übernommen, geglaubt und nach-
gercdet; sie sind nicht „Ausdruck" unsrer Persönlichkeit und ihres Zusammenstoßes
mit den Tatsachen, sondern sie sind Bruchstücke aus den Gedankenshstemcn
Anderer, meist Toter, vielfach sehr edler, gelegentlich auch ziemlich fahrlässig
oder einigermaßen unsittlich denkender Menschen. Sie entstammen der „Tra-
dition", dem Herkommen und der Abereinkunft. Der Sozialismus, indem er
die „Angerechtigkeit" der Wirtschastordnung behauptet, wendet sich nicht an
unsre uneignen, angenommenen Denkgew o h nh eiten, soirdern an unsre
eigne Denk fähigkeit. Er verlangt, daß wir uns eigne Anschauungen von
dcn Dingen verschaffen und daraus uns eigne Anschauungen über die Dinge
bilden. Wer die Tatsachen deutlich sieht und sie dann noch „gerecht" findet,

* Vgl. den Aufsatz „Nähern wir uns dem Sozialismus?", Deutscher Wille
XXX, 2s, S. svo.

37
 
Annotationen