II. Baubeschreibung und Lage des hellenistischenTempels
HypüthraleTempel.
Das Lageyerhältnis
des hellenistischen
zum archaischen
Heiligtum
Die heilige Quelle
1. Grundriß und Aufbau
(Z 145 Tf. 6-7; Z 146 Tf. 8; Z 147,148 Tf. 9-10; Z 149, 156 Tf. 11-12; Z150,151 Tf.13; Z152,153 Tf.14; Z154,
155 Tf. 15; Z 511 Tf. 1; F 702 Tf. 11; F 703, 704 Tf. 12).
Der Tempel ist in seinem ganzen Organismus, in seiner
räumlichen Gestaltung nach Grundriß und Aufbau be-
dingt durch die heilige Orakelquelle, die den Kern des
Heiligtums bildet und deren Stelle die örtliche Lage des
Baues bestimmt und beschränkt.
Quellen undBäume gehören zu jenen Naturheiligtiimern,
wie Blitzmale, geheimnisvolle Felsspalten und ähnliche
Bildungen, die nicht unter einem Dach geborgen werden
konnten oder durften, eine Forderung, die so zwingend
war, daß man, um ihr Geniige zu leisten, in den Fällen,
wo sich derartige Kultmale ausnahmsweise im Innern
sonst geschlossener Tempelbauten befanden, zu solch
merkwürdigen und sinnreichen Anordnungen gegriffen
hat, wie man sie bei der Nordhalle des Erechtheions oder
im Apollontempel zu Delphi findet.
Allgemein konnte, wenn Naturmale von einem Tempel-
bau umschlossen wurden, dieser seinem Wesen und
seiner Raumbildung nach nur die architektonische Aus-
gestaltung einer einen heiligen Bezirk umgehenden Ring-
mauer darstellen. So ist die Entstehung jener merk-
würdigen Gruppe antiker Heiligtümer zu erklären, die
Yitruv als Hypäthraltcmpel bezeichnet, deren Eigenheit
darin besteht, daß ihrlnnenraum unbedeckt einenoffenen
Hof bildet, und die dadurch in ausgesprochenem Gegen-
satz zu dem gewöhnlichen überdeckten Tempel, dem ge-
schlossenen Haus des Gottes, stehen.
Zu dieser Baugruppe, die besonders in Jonien verbreitet
gewesen zu sein scheint, doch nicht ausschließlich diesem
Lande eigentümlich ist, denn der Tempel des olympi-
schen Zeus in Athen steht ebenfalls in dieser Reihe, wo
wahrscheinlich der Abflußspalt der deukalischen Flut die
Yeranlassung zur Anwendung der Hypäthralform war,
gehört auch der didymäische Tempel.
Der eigentlich das Herz des ganzen Bauorganismus bil-
dende Hofraum, der heilige Bezirk, stellt ein mit der
längeren Achse sich ost-westlich bei einer starken nörd-
lichen Abweichung von 31° (auf M. N. bezogen!) er-
streckendes Rechteck dar von 45,419 m zu 21,714 m
Lichtweite, gemessen zwischen den Sockelschichten. Seine
Orientierung wurde, bis auf eine Vermehrung der
nördlichen Abweichung um einige Grade, von dem
vorpersischen Heiligtum ühernommen, seine Flächen-
ausdehnung aber diesem gegenüber nach drei Seiten,
nach Norden, Westen und Süden, erheblich vergrößert,
während eine solche Erweiterung nach Osten wahr-
sdieinlich nicht stattfand. Wie sich aus den Fundament-
resten der altenAnlage entnehmen läßt, betrug diese Ver-
größerung nach Norden und Süden etwa 4,50 m bis 5,00 m
und nach Westen etwa 3,00 m.
Die Geländeformation, die die Lage des heiligen Bezirks
hestimmt, ist dadurch charakterisiert, daß die flachen,
bis zur westlichen Küste reichenden Ausläufer der niedri-
gen, in eine karstige Küstenebene abfallenden Höhen,
durch welche die didymäisdie Halbinsel im Osten und
Norden mit dem gebirgigen Binnenlaml zusammenhängt,
hier in einer niedrigen Talfalte endigen. Letztere ent-
sendete in vorhistorischer Zeit eine wasserreiche Quelle,
deren bachartiger Ahfluß sich mit seinen sandigen, durcli
vermoorte pflanzliche Reste schwarz gefärbten Ahlage-
rungen in ungefähr südwestlicher bis südlicher Richtung
gegen die Küste von Karakuja hin außerhalb des Tem-
pels beiTiefgrabungen beobachten ließ. Bemerkenswert
ist dabei, daß diese Ablagerungen noch keinerlei Spuren
von Artefakten enthalten. Die Quelle, deren Heilig-
haltung die griechischen Ansiedler wohl schon von den
Urbewohnern des Landes übernommen haben, kann ihrer
tiefen Lage wegen kaum eine frei sprudelnde gewesen
sein, sondern sie wird eher die Form einer Grundwasser-
quelle gehabt liahen, die sich aus dem Bachbett infolge
der Aufstauung in dem flachen Unterlauf mehr oder
weniger stark, je nach der FüIIe ihres Zuflusses, erhob
und etwa das Bild einer iiberlaufenden Brunnenmulde
bot. Mit der fortschreitenden Kultivierung der die Quelle
speisenden Niederschlagsgebiete und ihrer Entwaldung
mußte natürlich auch die Ergiebigkeit der ersteren ab-
nehmen, so daß in der Spätzeit jenes Versiegen und
Tiefergraben derselben stattfinden konnte. Ganz ver-
schwunden ist sie jedoch wohl nie, und sie bietet heute,
nach ihrer Freilegung durch die Ausgrabung des Tem-
pels, wieder den türkischen Dorfbewohnern das bevor-
zugte Trinkwasser.
Ihre Lage wird hestimmt durch den Befund, welchen
die Untersuchung des Untergrundes im Innern des
Tempels ergah. Es zeigte sich, daß die östliche Hälfte
des offenen Hofraumes von einer etwa nordöstlich-
südwestlich verlaufenden Brecciabank durchzogen wird,
einem Felsrücken aus jeneinbröckeligen, durch Zusammen-
sinterung bunter Rollkiesel entstandenen Gestein, das
sich überall auf der milesischen Halbinsel als untere, den
Kalksteinhügeln vorgelagerte diluviale Bildung findet.
Die Bank sperrte die Quellsenke gegen Westen und
gestattete den Abfluß und die Ausbreitung des Wassers
nur nach Süden. Diese Verhältnisse werden besonders
dadurch augenfällig, daß sich in dem westlichen Teil des
Hofes mehrere, zumTeil bis in großeTiefe hinabgeführte
mittelalterliche Brunnen finden, die meist trocken liegen
oder einen sehr niedrigen Grundwasserspiegel zeigen,
während östlich von jener Bank in dem Agiasma, dem
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HypüthraleTempel.
Das Lageyerhältnis
des hellenistischen
zum archaischen
Heiligtum
Die heilige Quelle
1. Grundriß und Aufbau
(Z 145 Tf. 6-7; Z 146 Tf. 8; Z 147,148 Tf. 9-10; Z 149, 156 Tf. 11-12; Z150,151 Tf.13; Z152,153 Tf.14; Z154,
155 Tf. 15; Z 511 Tf. 1; F 702 Tf. 11; F 703, 704 Tf. 12).
Der Tempel ist in seinem ganzen Organismus, in seiner
räumlichen Gestaltung nach Grundriß und Aufbau be-
dingt durch die heilige Orakelquelle, die den Kern des
Heiligtums bildet und deren Stelle die örtliche Lage des
Baues bestimmt und beschränkt.
Quellen undBäume gehören zu jenen Naturheiligtiimern,
wie Blitzmale, geheimnisvolle Felsspalten und ähnliche
Bildungen, die nicht unter einem Dach geborgen werden
konnten oder durften, eine Forderung, die so zwingend
war, daß man, um ihr Geniige zu leisten, in den Fällen,
wo sich derartige Kultmale ausnahmsweise im Innern
sonst geschlossener Tempelbauten befanden, zu solch
merkwürdigen und sinnreichen Anordnungen gegriffen
hat, wie man sie bei der Nordhalle des Erechtheions oder
im Apollontempel zu Delphi findet.
Allgemein konnte, wenn Naturmale von einem Tempel-
bau umschlossen wurden, dieser seinem Wesen und
seiner Raumbildung nach nur die architektonische Aus-
gestaltung einer einen heiligen Bezirk umgehenden Ring-
mauer darstellen. So ist die Entstehung jener merk-
würdigen Gruppe antiker Heiligtümer zu erklären, die
Yitruv als Hypäthraltcmpel bezeichnet, deren Eigenheit
darin besteht, daß ihrlnnenraum unbedeckt einenoffenen
Hof bildet, und die dadurch in ausgesprochenem Gegen-
satz zu dem gewöhnlichen überdeckten Tempel, dem ge-
schlossenen Haus des Gottes, stehen.
Zu dieser Baugruppe, die besonders in Jonien verbreitet
gewesen zu sein scheint, doch nicht ausschließlich diesem
Lande eigentümlich ist, denn der Tempel des olympi-
schen Zeus in Athen steht ebenfalls in dieser Reihe, wo
wahrscheinlich der Abflußspalt der deukalischen Flut die
Yeranlassung zur Anwendung der Hypäthralform war,
gehört auch der didymäische Tempel.
Der eigentlich das Herz des ganzen Bauorganismus bil-
dende Hofraum, der heilige Bezirk, stellt ein mit der
längeren Achse sich ost-westlich bei einer starken nörd-
lichen Abweichung von 31° (auf M. N. bezogen!) er-
streckendes Rechteck dar von 45,419 m zu 21,714 m
Lichtweite, gemessen zwischen den Sockelschichten. Seine
Orientierung wurde, bis auf eine Vermehrung der
nördlichen Abweichung um einige Grade, von dem
vorpersischen Heiligtum ühernommen, seine Flächen-
ausdehnung aber diesem gegenüber nach drei Seiten,
nach Norden, Westen und Süden, erheblich vergrößert,
während eine solche Erweiterung nach Osten wahr-
sdieinlich nicht stattfand. Wie sich aus den Fundament-
resten der altenAnlage entnehmen läßt, betrug diese Ver-
größerung nach Norden und Süden etwa 4,50 m bis 5,00 m
und nach Westen etwa 3,00 m.
Die Geländeformation, die die Lage des heiligen Bezirks
hestimmt, ist dadurch charakterisiert, daß die flachen,
bis zur westlichen Küste reichenden Ausläufer der niedri-
gen, in eine karstige Küstenebene abfallenden Höhen,
durch welche die didymäisdie Halbinsel im Osten und
Norden mit dem gebirgigen Binnenlaml zusammenhängt,
hier in einer niedrigen Talfalte endigen. Letztere ent-
sendete in vorhistorischer Zeit eine wasserreiche Quelle,
deren bachartiger Ahfluß sich mit seinen sandigen, durcli
vermoorte pflanzliche Reste schwarz gefärbten Ahlage-
rungen in ungefähr südwestlicher bis südlicher Richtung
gegen die Küste von Karakuja hin außerhalb des Tem-
pels beiTiefgrabungen beobachten ließ. Bemerkenswert
ist dabei, daß diese Ablagerungen noch keinerlei Spuren
von Artefakten enthalten. Die Quelle, deren Heilig-
haltung die griechischen Ansiedler wohl schon von den
Urbewohnern des Landes übernommen haben, kann ihrer
tiefen Lage wegen kaum eine frei sprudelnde gewesen
sein, sondern sie wird eher die Form einer Grundwasser-
quelle gehabt liahen, die sich aus dem Bachbett infolge
der Aufstauung in dem flachen Unterlauf mehr oder
weniger stark, je nach der FüIIe ihres Zuflusses, erhob
und etwa das Bild einer iiberlaufenden Brunnenmulde
bot. Mit der fortschreitenden Kultivierung der die Quelle
speisenden Niederschlagsgebiete und ihrer Entwaldung
mußte natürlich auch die Ergiebigkeit der ersteren ab-
nehmen, so daß in der Spätzeit jenes Versiegen und
Tiefergraben derselben stattfinden konnte. Ganz ver-
schwunden ist sie jedoch wohl nie, und sie bietet heute,
nach ihrer Freilegung durch die Ausgrabung des Tem-
pels, wieder den türkischen Dorfbewohnern das bevor-
zugte Trinkwasser.
Ihre Lage wird hestimmt durch den Befund, welchen
die Untersuchung des Untergrundes im Innern des
Tempels ergah. Es zeigte sich, daß die östliche Hälfte
des offenen Hofraumes von einer etwa nordöstlich-
südwestlich verlaufenden Brecciabank durchzogen wird,
einem Felsrücken aus jeneinbröckeligen, durch Zusammen-
sinterung bunter Rollkiesel entstandenen Gestein, das
sich überall auf der milesischen Halbinsel als untere, den
Kalksteinhügeln vorgelagerte diluviale Bildung findet.
Die Bank sperrte die Quellsenke gegen Westen und
gestattete den Abfluß und die Ausbreitung des Wassers
nur nach Süden. Diese Verhältnisse werden besonders
dadurch augenfällig, daß sich in dem westlichen Teil des
Hofes mehrere, zumTeil bis in großeTiefe hinabgeführte
mittelalterliche Brunnen finden, die meist trocken liegen
oder einen sehr niedrigen Grundwasserspiegel zeigen,
während östlich von jener Bank in dem Agiasma, dem
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